Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
Ich werde auf keinen Fall länger zusehen, wie du weiter in der Dunkelheit versinkst. Das kann ich nicht, Clara. Dafür liebe ich dich zu sehr.« Leo atmete tief durch, zögerte einen Moment. »Das Trauma, das du erlitten hast … Du … musst dir Hilfe holen.«
»Ich habe schon jede nur erdenkliche Form von Hilfe ausprobiert«, sagte Clara, die auf ihrem Stuhl in sich zusammengesunken war.
»Ich weiß.« Er nickte. »Ich weiß, dass du das hast. Aber du musst es weiter versuchen.«
»Ja. Das sagt sich so leicht.«
Leo starrte sie an. »Nein, bestimmt nicht. Glaub mir.« Seine Stimme klang belegt vor Mitgefühl. »Du hast ein echtes Problem, Hosenscheißer«, flüsterte er. »Kannst du reinen Herzens sagen, du willst, dass dein Leben so weitergeht wie im Moment?«
Clara brachte es nicht über sich, ihm zu sagen, dass es nicht bloß Sebastians Leben war, das letzten März zu Ende gegangen war. Und den Mumm hatte sie schon gar nicht, ihn zu fragen: Wie soll ich weitermachen, wenn ich überhaupt kein Licht am Ende des Tunnels sehe? Schließlich hob sie das Kinn und blickte ihrem Bruder in die Augen, völlig offen und in dem Wissen, dass sie ihn nicht anlügen konnte. Nicht Leo. Nicht wenn sie ihm an diesem alten Marmortisch gegenübersaß, in diesen zuverlässigen, vertrauten vier Wänden, die ihre Geheimnisse bargen und die man ehren musste. Alles, was sie tun konnte, war, den kratzigen Kloß zu unterdrücken, der sich in ihrem Hals bildete. »Hör zu«, sagte sie sanft, »ich liebe dich auch. Und ich weiß, dass du das Herz am rechten Fleck hast, aber ich will im Moment wirklich nicht darüber reden. Abgesehen davon hat mir Libby genau dieselbe Rede gehalten, bevor wir schlafen gegangen sind. Sie hat auch das alte Lied von wegen ›Don’t worry, be happy‹ gesungen, und zwar in einer Tonlage, die ganz und gar nicht die ihre ist.« Clara verdrehte die Augen und tat ihr Bestes, energisch zu wirken. »Ich glaube, für den ersten Tag daheim habe ich einfach genug.« Sie starrte ihren Bruder an. »Bitte«, bat sie im Flüsterton.
Leo erhob sich und fing an, den Tisch abzuräumen. »Dieses Lied ist echt das Letzte.« Er räumte ihre Teller weg.
Clara lächelte ihn dankbar an.
Und er lächelte zurück.
Was für ein Geschenk es doch war, verstanden zu werden.
5
Am folgenden Nachmittag schickte Libby, die sich in ihrem üblichen Vorbereitungsrausch für die alljährliche Thanksgiving-Feier der Familie Black befand, Clara gegen ihren Willen zu Essen und Trinken, dem örtlichen Delikatessengeschäft, um so viele vorbestellte Leckereien abzuholen, dass man damit eine ganze Armee satt bekommen hätte.
Bei Essen und Trinken herrschte Festtagsstimmung, und Kunden flitzten kreuz und quer durch den Laden, unterhielten sich und fühlten sich offensichtlich wohl. Früher hatte Clara die Deko des Ladens und die festliche Atmosphäre während der Feiertage immer genossen, denn sie zeigten ihr, dass ihre liebste Zeit des Jahres endlich gekommen war. Deshalb hatte sie auch immer besonderen Wert darauf gelegt, für Libby dort die Besorgungen zu machen. Aber nicht dieses Jahr. Nachdem sie fast eine halbe Stunde lang draußen hatte Schlange stehen müssen, war sie endlich im Laden. Ihr fiel ein Pärchen auf, das Händchen haltend an der Fischtheke stand. Als der offensichtlich schwer verliebte Mann der Frau eine Probiergarnele zärtlich in den Mund schob, schaute Clara sofort weg. Wie sehr wünschte sie sich, dass Sebastian nun bei ihr wäre! Dies hätte ihr erstes gemeinsames Thanksgiving als verheiratetes Paar werden sollen. Sie hätten eigentlich das Fischtheken-Pärchen sein müssen, dessen Anblick die anderen Kunden nervte. Clara richtete ihren Blick schnell auf die Feinkosttheke, aber wieder krampfte sich ihr Magen zusammen, als sie dahinter eine üppige Auswahl an Salami hängen sah. Salami war Sebastians absolute Leibspeise gewesen. Er tat sie in alles, von Rührei bis Käsemakkaroni. Außerdem war es die »Geheimzutat« in seinem berühmten Chili. Als er und Clara Urlaub in Italien gemacht hatten, kostete er sogar salame al cioccolato und behauptete, dies sei das Beste, was er je gegessen habe. Manchmal traten Clara beim bloßen Anblick einer Genueser Salami die Tränen in die Augen. Ein andermal musste sie laut loslachen, weil Salami schöne Erinnerungen an ihren Salamiliebhaber und Seelenverwandten in ihr weckte. So war sie, die unberechenbare, turbulente Achterbahn der Trauer, auf der Clara unterwegs war. Die
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