Die Liste
Ausschmücken meiner Nachrufe eine große Hilfe.
Pastor Cooper sah auf seine Schäfchen hinunter und stellte fest, dass ich der einzige Besucher war. Er rief meinen Namen, hieß mich willkommen und bat scherzhaft darum, dass mein Bericht in der Times positiv ausfallen 384
möge. Nach vier Jahren in den Kirchen des County und siebenundsiebzig ziemlich wohlwollenden und anschaulichen Artikeln in meiner Kirchenkolumne war es mir unmöglich geworden, mich unbemerkt in einen Gottesdienst zu schleichen.
Ich wusste nie, was mich in diesen ländlich geprägten Kirchen erwartete. Die Predigten waren fast immer lang und laut, und ich fragte mich oft, wie es die Menschen Woche für Woche schafften, sich in den Gottesdienst zu schleppen und eine Standpauke über sich ergehen zu lassen. Einige Prediger erinnerten mich fast schon an Sadisten, wenn sie das, was ihre Anhänger unter der Woche getan hatten, in Grund und Boden verteufelten. Im ländlichen Mississippi war alles eine Sünde, beleibe nicht nur das, was ausdrücklich in den Zehn Geboten untersagt war. Fernsehen, Kinos, Kartenspiele, beliebte Magazine, Sportveranstaltungen, Cheerleader-Uniformen, die Aufhebung der Rassentrennung, Kirchengemeinden mit weißen und schwarzen Mitgliedern, Disney – weil es sonntagabends sendete –, Tanzen, Trinken in Gesellschaft, Sex, einfach alles wurde verdammt.
Doch Pastor Cooper war mit sich selbst im Reinen. In seiner Predigt – achtundzwanzig Minuten – ging es um Toleranz und Liebe. Liebe sei die wichtigste Botschaft Christi. Christus wolle, dass wir unseren Nächsten liebten.
Beim Abendmahl sangen wir drei Strophen eines Kirchenlieds, aber niemand stand auf und ging zum Altar. Diese Menschen waren schon sehr oft vor den Altar getreten.
Wie immer nach einem Gottesdienst wechselte ich noch ein paar Worte mit dem Pastor. Ich sagte Cooper, dass mir der Gottesdienst sehr gut gefallen habe – das sagte ich immer, egal, ob ich es so meinte oder nicht –, und schrieb mir die Namen der Chorsänger für meine Kolumne auf.
Die Mitglieder einer Gemeinde waren grundsätzlich sehr 385
freundlich, aber in diesem Stadium meiner Kirchentour hätten sie sich am liebsten stundenlang mit mir unterhalten und kleine Anekdoten erzählt, die vielleicht gedruckt wurden. »1902 hat mein Großvater das Dach dieser Kirche gedeckt.«
»Einmal ist ein Tornado während der Sommerauf-erweckung direkt über unsere Köpfe gezogen.«
Als ich das Gebäude verließ, sah ich einen Mann in einem Rollstuhl, der gerade über die Behindertenrampe gefahren wurde. Ich kannte ihn und ging hinüber, um ihn zu begrüßen. Lenny Fargarson, »der verkrüppelte Junge«
und Geschworene Nummer sieben oder acht, hatte offenbar nicht viel Glück gehabt. Sein Gesundheitszustand schien sich erheblich verschlechtert zu haben. Beim Prozess 1970 hatte er noch gehen können, obwohl es kein schöner Anblick gewesen war. Jetzt saß er im Rollstuhl.
Sein Vater stellte sich selbst vor. Seine Mutter stand bei einigen Frauen, die sich gerade voneinander verabschiedeten.
»Haben Sie kurz Zeit?«, fragte Fargarson. In Mississippi bedeutete diese Frage: »Wir müssen reden, und es könnte eine Weile dauern.« Ich setzte mich auf eine Bank unter einer der Eichen. Sein Vater schob den Rollstuhl heran und ließ uns dann allein.
»Ich lese jede Woche Ihre Zeitung«, sagte Fargarson.
»Glauben Sie, dass Padgitt rauskommt?«
»Ja. Es geht nur noch darum, wann. Er kann einmal im Jahr Entlassung auf Bewährung beantragen, und das jedes Jahr.«
»Wird er wieder herkommen, nach Ford County?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Vermutlich. Die Padgitts kleben an ihrem Land.«
Fargarson überlegte eine Weile. Er war hager und saß 386
vornübergebeugt wie ein alter Mann. Wenn ich mich recht erinnerte, war er beim Prozess etwa fünfundzwanzig gewesen. Wir waren ungefähr im gleichen Alter, obwohl er doppelt so alt aussah wie ich. Ich hatte gehört, was ihm widerfahren war – ein Unfall in einem Sägewerk.
»Macht Ihnen das Angst?«, fragte ich.
Er lächelte und sagte: »Mir macht nichts Angst, Mr Traynor. Der Herr ist mein Hirte.«
»Ja, das ist er«, erwiderte ich, da ich noch ganz unter dem Eindruck der Predigt stand. Fargarsons Behinderung und der Rollstuhl machten es fast unmöglich, seine Körpersprache zu verstehen. Er hatte so viel durchgemacht. Sein Glaube war stark, aber eine Sekunde lang glaubte ich, eine dunkle Vorahnung in seiner Stimme zu hören.
Mrs Fargarson kam auf uns
Weitere Kostenlose Bücher