Die Liste
hatte erwartet, dass es so schnell gehen würde, aber wir hatten den Schock bald überwunden.
Seine Haftentlassung war von zwei ungewöhnlichen Faktoren beeinflusst worden. Zum einen war von Bedeutung, dass Rhoda Kassellaw keine Familie in Ford County hatte. Es gab keine trauernden Eltern, die Sympathie wecken und Gerechtigkeit verlangen konnten.
Es gab keine zornigen Geschwister, die den Fall am Leben erhalten hätten. Ihre Kinder waren fort und vergessen. Sie hatte ein einsames Leben geführt und keine engen Freunde zurückgelassen, die einen Groll gegen ihren Mörder hegten.
Zum anderen spielte eine Rolle, dass die Padgitts in einer völlig anderen Welt lebten. Da man sie so selten in der Öffentlichkeit sah, redeten wir uns einfach ein, dass Danny auf die Insel zurückkehren und fortan nicht mehr gesehen werden würde. Was für einen Unterschied machte es für die Bewohner von Ford County, ob Danny Padgitt im Gefängnis oder auf Padgitt Island war? Wenn wir ihn nie sahen, würden wir auch nicht an seine Verbrechen erinnert werden. In den neun Jahren seit dem Prozess hatte 402
ich nicht einen Padgitt in Clanton gesehen. In meinem beißenden Leitartikel über Dannys Haftentlassung schrieb ich: »Ein kaltblütiger Killer ist wieder unter uns«. Aber das stimmte eigentlich gar nicht.
Zu der Berichterstattung auf der ersten Seite und meinem Leitartikel ging kein einziger Leserbrief ein. Die Leute sprachen über Padgitts Entlassung, aber nicht sehr lange und nicht sehr laut.
Eine Woche später kam Baggy am späten Vormittag in mein Büro und machte die Tür hinter sich zu. Das war immer ein gutes Zeichen. Er hatte ein Gerücht aufgeschnappt, das so ungeheuerlich war, dass er es nur hinter verschlossenen Türen erzählen wollte.
Gewöhnlich war ich gegen elf Uhr im Büro, und gewöhnlich fing Baggy gegen Mittag zu trinken an. Daher blieb uns in der Regel nur etwa eine Stunde, in der wir über Artikel sprechen und Gerüchte austauschen konnten.
Er sah sich um, als wären die Wände verwanzt. Dann sagte er: »Es hat die Padgitts hundert Riesen gekostet, um den Jungen aus dem Gefängnis zu holen.«
Weder die Summe noch die Tatsache, dass die Padgitts jemanden bestochen hatten, schockierten mich, aber ich war überrascht, dass Baggy diese Information ausgegraben hatte.
»Nein!«, erwiderte ich. Damit brachte ich ihn für gewöhnlich dazu, noch mehr zu erzählen.
»Wenn ich’s Ihnen doch sage«, meinte er empört.
»Wer hat das Geld bekommen?«
»Das ist das Beste daran. Sie werden es nicht glauben.«
»Wer?«
»Sie werden schockiert sein.«
»Wer?«
403
Baggy zündete sich langsam und genüsslich eine Zigarette an. Früher hatte es mich immer in den Wahnsinn getrieben, wenn er mich so hinhielt und nicht mit dem herausrücken wollte, was er wusste. Aber inzwischen hatte ich gelernt, dass ich auch nicht schneller an die Geschichte kam, wenn ich ungeduldig wurde. Ich kritzelte auf meinem Block herum.
»Eigentlich dürfte es ja keine Überraschung mehr sein«, sagte er sinnierend, während er an seiner Zigarette sog.
»Mich hat es jedenfalls nicht überrascht.«
»Wollen Sie es mir nun sagen oder nicht?«
»Theo.«
»Senator Morton?«
»Wenn ich’s Ihnen sage.«
Ich war erschüttert, und das musste ich Baggy auch zeigen, damit er nicht an Fahrt verlor. » Theo? « , wiederholte ich.
»Er ist stellvertretender Vorsitzender des Gefängnis-komitees im Senat. Dort sitzt er schon eine halbe Ewigkeit, und er weiß, wie man die Fäden zieht. Er wollte hundert Riesen haben, die Padgitts wollten sie bezahlen, sie sind miteinander ins Geschäft gekommen, der Junge wurde freigelassen. So einfach ist das.«
»Ich dachte, Theo würde sich nicht bestechen lassen.«
Das meinte ich ernst.
Baggy schnaubte. »Seien Sie nicht so naiv«, meinte er.
»Wer hat Ihnen das eigentlich erzählt?«
»Kann ich nicht sagen.« Es war natürlich möglich, dass seine Pokerrunde sich das Gerücht ausgedacht hatte, um festzustellen, wie schnell es die Runde um den Clanton Square machte, bevor es zu ihnen zurückkam. Aber es war genauso gut möglich, dass Baggy einer Riesensache auf 404
der Spur war. Doch das spielte eigentlich keine Rolle.
Bargeld ließ sich nicht zurückverfolgen.
Gerade, als ich nicht mehr davon träumte, die Zeitung zu verkaufen, in den vorzeitigen Ruhestand zu treten, wegzugehen, nach Europa zu fliegen, mit dem Rucksack durch Australien zu ziehen, gerade, als ich mich wieder an meinen Alltag gewöhnt
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