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Die Liste

Die Liste

Titel: Die Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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dass Mitlo mich anstrahlte.
    Der Chor begann, »Amazing Grace« zu singen, und die Stimmung wurde trübsinnig. Dann gab Reverend Clinkscale einen kurzen Überblick über Mr Caudles Lebensgeschichte: 1896 als einziges Kind unserer geliebten Miss Emma Caudle geboren, ein Witwer ohne eigene Kinder, Veteran des Ersten Weltkriegs und über fünfzig Jahre lang Chefredakteur der Wochenzeitung unseres County. Er hatte die Gestaltung von Nachrufen zu 259

    einer Kunst erhoben und würde dafür unvergessen bleiben.
    Der Reverend schwafelte noch ein wenig weiter, dann unterbrach ein Solo die Monotonie. Es war mein viertes Begräbnis seit meiner Ankunft in Clanton. Die einzige Beerdigung, an der ich bis dahin teilgenommen hatte, war die meiner Mutter gewesen, aber hier in der Kleinstadt handelte es sich um gesellschaftliche Ereignisse. Oft hörte ich Sätze wie »War das nicht ein schöner Gottesdienst?«
    oder »Bis zur Beerdigung«. Am besten gefiel mir »Sie wäre begeistert gewesen«.
    Wobei »sie« selbstverständlich die Verstorbene war.
    Die Leute nahmen sich frei und trugen ihre Sonntags-kleidung. Wer nicht zu Beerdigungen ging, galt als sonderbar. Da ich auch so schon sonderbar genug wirkte, war ich fest entschlossen, die Toten angemessen zu ehren.

    Der zweite Todesfall ereignete sich später an jenem Abend, und als ich am Montag davon hörte, eilte ich nach Hause und holte meinen Revolver.
    Malcolm Vince war zweimal in den Kopf geschossen worden, nachdem er in einem abgelegenen Teil von Tishomingo County ein zwielichtiges Lokal verlassen hatte. In Tishomingo durfte kein Alkohol verkauft werden.
    Die Kneipe war illegal und lag deswegen weitab vom Schuss.
    Es gab keine Zeugen für den Mord. Malcolm Vince hatte Bier getrunken und Billard gespielt, ohne Ärger zu machen oder sich danebenzubenehmen. Zwei Bekannte sagten der Polizei gegenüber aus, Vince habe das Lokal nach etwa drei Stunden gegen dreiundzwanzig Uhr allein verlassen. Er sei guter Stimmung und nicht betrunken gewesen. Er habe sich verabschiedet, sei nach draußen gegangen, und binnen weniger Sekunden hätten sie 260

    Schüsse gehört. Sie seien ziemlich sicher, dass er nicht bewaffnet gewesen sei.
    Die Kneipe befand sich am Ende einer unbefestigten Zufahrt, und etwa vierhundert Meter weiter oben an der Straße bewachte ein mit einer Schrotflinte bewaffneter Posten einen Durchgang. Seine Aufgabe war es, den Besitzer zu warnen, wenn die Polizei oder andere unangenehme Charaktere auftauchten. Tishomingo lag an der Staatsgrenze, und es bestanden einige historische Fehden mit Gangstern aus Alabama. Zwielichtige Lokale wurden gern benutzt, um offene Rechnungen zu begleichen. Der Posten hatte die Schüsse gehört, die Malcolm Vince töteten, und war sich sicher, dass danach kein Auto vom Tatort geflohen war. Jedes Fahrzeug hätte ihn passieren müssen.
    Vince’ Mörder war zu Fuß aus den Wäldern gekommen.
    Ich sprach mit dem Sheriff von Tishomingo County, der davon überzeugt war, dass jemand es auf Vince abgesehen hatte. Auf jeden Fall handelte es sich nicht um eine gewöhnliche Kneipenstreiterei.
    »Irgendeine Vorstellung, wer hinter Mr Vince her war?«, fragte ich, wobei ich verzweifelt hoffte, dass dieser sich auch in Tishomingo County Feinde gemacht hatte.
    »Keine Ahnung«, sagte er. »Er wohnte noch nicht lange hier.«
    Zwei Tage lang trug ich den Revolver in der Tasche, bis ich es satt hatte. Falls die Padgitts mich, einen der Geschworenen, Richter Loopus, Ernie Gaddis oder sonst jemanden erledigen wollten, weil sie glaubten, derjenige trüge die Schuld an Dannys Verurteilung, konnte man nicht viel dagegen tun.
    Die Ausgabe der Times jener Woche war Wilson Caudle gewidmet. Ich holte ein paar alte Fotos aus dem Archiv 261

    und pflasterte die Titelseite damit. Wir druckten Lobreden, Berichte und jede Menge bezahlte Beileidsbekundungen seiner zahlreichen Freunde. Dann kaute ich im längsten Nachruf in der Geschichte der Zeitung alles noch einmal durch.
    Spot hatte es verdient.
    Ich war mir nicht sicher, was ich mit der Story von Malcolm Vince’ Tod anfangen sollte. Er war nicht in Ford County ansässig gewesen und kam daher für einen Nachruf nicht wirklich infrage. Unsere Regeln in dieser Hinsicht waren allerdings sehr flexibel. Ein prominenter Bürger von Ford County wurde auch dann mit einem Nachruf bedacht, wenn er weggezogen war. Doch es musste natürlich etwas zu schreiben geben. Jemand wie Malcolm Vince, der nur vorübergehend im County gelebt

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