Die Liste
angerufen, Miss Callie.«
Sie hörte auf zu essen und schluckte. »Wie geht es ihm?«, fragte sie dann.
»Gut. Er will an Weihnachten nach Hause kommen, weil die ganze Familie hier sein wird. Da will er nicht fehlen.«
»Wissen Sie, wo er ist?«, fragte sie.
»Wissen Sie es?«
»Nein.«
»Er ist in Memphis. Wir haben uns für morgen dort verabredet.«
»Warum treffen Sie sich mit Sam?« Mein Engagement schien ihr Misstrauen zu erregen.
»Er will, dass ich ihm helfe. Max und Bobby haben ihm erzählt, dass wir befreundet sind. Er sagt, er hält mich für einen Weißen, dem er trauen kann.«
»Es könnte gefährlich werden«, sagte sie.
»Für wen?«
»Für Sie beide.«
Ihr Arzt hatte ihr geraten, auf ihr Gewicht zu achten.
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Manchmal hielt sie sich daran, aber nicht immer. Bei besonders schweren Gerichten wie Eintöpfen und Klößen nahm sie sich nur kleine Portionen und aß langsam. Die Neuigkeiten von Sam lieferten ihr einen Grund, ganz mit dem Essen aufzuhören. Sie legte ihre Serviette zusammen und fing an zu reden.
Sam hatte Clanton mitten in der Nacht mit einem Greyhound-Bus nach Memphis verlassen. Von dort rief er Callie und Esau an. Am nächsten Tag fuhr ein Freund nach Memphis, um ihm Geld und Kleidung zu bringen.
Als sich die Geschichte von seiner Affäre mit Iris Durant wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitete, waren Callie und Esau davon überzeugt, dass die Polizei ihren jüngsten Sohn umbringen würde. Streifenwagen der Highway Patrol fuhren rund um die Uhr an ihrem Haus vorbei. Sie erhielten anonyme Anrufe, in denen sie bedroht und beschimpft wurden.
Mr Kohn stellte bei Gericht irgendeinen Antrag. Ein Termin für eine Anhörung wurde angesetzt und verstrich, ohne dass Sam erschienen wäre. Miss Callie bekam nie eine offizielle Anklageschrift zu Gesicht, aber sie wusste auch nicht genau, wie eine solche aussah.
Memphis schien Sam zu nah an Clanton, deshalb ging er nach Milwaukee, wo er sich einige Monate bei Bob versteckt hielt. Seit zwei Jahren wanderte er nun von einem seiner Geschwister zum anderen. Immer reiste er bei Nacht, immer hatte er Angst, erwischt zu werden. Die älteren Ruffin-Kinder riefen oft zu Hause an und schrieben einmal pro Woche, aber sie hatten Angst, Sam zu erwähnen. Vielleicht hörte jemand mit.
»Es war falsch von ihm, sich mit einer solchen Frau einzulassen«, sagte Miss Callie und nippte an ihrem Tee.
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Ich hatte ihr gründlich den Appetit verdorben, während ich selbst weiter kräftig zulangte. »Aber er war so jung. Und er hatte es ja nicht darauf angelegt.«
Am nächsten Tag wurde ich zum inoffiziellen Mittelsmann zwischen Sam Ruffin und seinen Eltern.
Wir trafen uns in einem Café in einem Einkaufszentrum im Süden von Memphis. Er hatte mich eine halbe Stunde lang aus der Ferne beobachtet, bevor er plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und mir gegenüber Platz nahm. In den zwei Jahren auf der Flucht hatte er einige Tricks gelernt.
Das unstete Leben hatte sein jugendliches Gesicht gezeichnet. Gewohnheitsmäßig sah er sich ständig nach allen Seiten um. So sehr er sich auch bemühen mochte, Blickkontakt zu halten, länger als ein paar Sekunden gelang es ihm nicht. Es war keine große Überraschung, dass er mit leiser, deutlicher Stimme sprach, sehr höflich und dankbar dafür war, dass ich bereit war zu prüfen, ob ich ihm helfen konnte.
Er dankte mir für die Freundlichkeit, die ich seiner Mutter erwiesen hatte, und für meine freundschaftliche Beziehung zu ihr. Bobby in Milwaukee hatte ihm die Times- Reportage gezeigt. Er sagte, dass er bei seinen Geschwistern in Los Angeles, Duke, Toledo und Grinnell in Iowa Unterschlupf gefunden habe und diesen ständigen Wechsel nicht mehr lange durchhalte. Verzweifelt suche er nach einer Lösung für die Probleme zu Hause, damit er wieder ein normales Leben führen könne. Er sei dabei, die Highschool in Milwaukee abzuschließen, und wolle irgendwann Jura studieren. Solange er wie ein Flüchtling lebe, sei das jedoch unmöglich.
»Ich stehe ganz schön unter Druck, kann ich Ihnen sagen«, meinte er. »Schließlich haben alle meine sieben 272
Geschwister einen Doktortitel.«
Ich schilderte meine ergebnislose Suche nach einer Anklageschrift, meine Erkundigungen bei Sheriff Coley und mein Gespräch mit Harry Rex über Durants gegenwärtige Stimmung. Sam dankte mir überschwänglich für diese Informationen und meine Bereitschaft, mich einzuschalten.
»Es besteht keine Gefahr, dass Sie verhaftet
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