Die Listensammlerin
und Großmutter wird immer kränker, und ich dachte, vielleicht könntest du mir dieses eine Mal helfen, weil du sonst nichts für deine Großmutter tust. Für eine Großmutter, die dich geliebt und dir ihr Leben geopfert hat, könntest du mal diese eine Aufgabe übernehmen! Diese Aufgabe fällt eindeutig dir zu.»
Nichts brachte mich bei meiner Mutter mehr auf die Palme als das Theatralische, Pathetische, Salbungsvolle, Drama-Queen nannte sie Flox. Das Theatralische hasste ich noch mehr als ihr Schweigen, noch mehr als die unendliche, liebevolle Geduld, mit der sie meine Ausbrüche und Vorwürfe hinnahm, wie ein williges Opfer (im Gegensatz zu Flox, der sich wehrte), weil sie meinte, unausgesprochen und dennoch hallend deutlich, eine Mutter sei nun mal auch immer das Opfer ihrer Kinder und müsse ihren Kindern Opfer bringen. Eine Mutter habe für ihre Kinder immer da zu sein, auch in Zeiten, in denen es den Kindern so schlecht ging, dass das Einzige, was Besserung versprach, war, die Mutter anzuschreien um des Schreiens willen. Ich schrie sie an, weil ich genervt war von Anna, die ich nicht anschreien durfte, von meinem Leben, von ständigen Arztbesuchen, vom Schreiben, vom Nicht-Schreiben, von Flox, von mir selbst. Sie blieb geduldig und liebevoll in ihrer Rolle, was meine Aggression noch steigerte, dann tatsächlich gegen sie, und auch meinen Ehrgeiz, die Grenze der Geduld zu ertasten. An manchen Tagen wurde ich gemein.
Im Falle meiner Großmutter sowie der Aufgabe wirkte das Pathos aber: Ich war meiner Großmutter tatsächlich vieles schuldig.
Ich versuchte es: «Ich habe auch keine Zeit», was meine Mutter annahm: «Ja, das stimmt, du hast auch keine Zeit!» Und dann schwieg sie kurz, bevor sie mich nach Anna fragte, sie schwieg, weil sie wohl schon vor dem Telefonat gewusst hatte, dass ich ja sagen würde, spätestens wenn ich mich beruhigt und mit Flox gesprochen hatte, allerspätestens nach dem nächsten Besuch im Heim. Die Aufgabe fiel mir zu. Ich war ihr schon seit Wochen nachgegangen, war mit Bad und Flur schon fertig und hatte das Schlafzimmer fast durch.
«Jedenfalls», sagte ich nun beim Kaffeetrinken und Kuchenessen zu meiner Mutter und den anderen, die als Puffer (Anna) oder Publikum (Flox und Frank) dienen sollten, «jedenfalls», wiederholte ich nach einer Pause und räusperte mich kurz, weil der Satz immer noch nicht so flüssig herauswollte, wie er sollte, «habe ich ein paar interessante Sachen bei Großmutter im Schrank gefunden.»
«Du kannst mitnehmen, was du willst!», antwortete sie ohne jegliches Interesse. Oder gabelte sie etwas zu demonstrativ das nächste Stück vom Kuchen ab? Ich interpretierte schon wieder zu viel.
«Ja, danke.» Wofür bedankte ich mich? Wovor hatte ich Angst, vor dem Schweigen, vor einer Erklärung, die meiner Entdeckung jedes Abenteuer nehmen könnte, aber wie könnte die aussehen? Die Listen waren immerhin Listen! Ich interpretierte und analysierte schon wieder zu viel.
Deshalb schnell, deutlich und laut: «Ich habe in ihrem Kleiderschrank ein kleines Holzkästchen gefunden, eine Schatulle. Darin waren Papiere, alte Papiere, zum Teil eingerissen. Und darauf standen Listen, Listen, wie ich sie schreibe, mit kyrillischen Buchstaben.»
«Lissen!», rief Anna, «Lissen!», und ich verbesserte automatisch: «Listen, genau, Anna, sehr gut!», und weil sonst niemand etwas sagte, fügte ich hinzu, ohne meine Mutter anzusehen: «Weißt du etwas darüber?»
«Listen?», fragte sie.
«Listen. Verschiedene Listen. Ich habe fast alles entziffern können. Listen zu verschiedenen Themen. Zum Beispiel eine Liste von Männern, die schöne Hände haben. Hat Großmutter sie geschrieben?»
«Ich habe keine Ahnung. Ich kenne diese Schatulle nicht. Ich weiß nichts von Listen. Wer schreibt denn Listen außer dir? Und wozu sollte Großmutter aufschreiben, welche Männer schöne Hände haben?» Sie sprach ruhig und sah mir in die Augen. Zu interpretieren hatte ich nichts. Frank beobachtete sie, hörte uns zu, wie er immer zuhörte, zur Analyse und Interpretation eignete sich seine Mimik grundsätzlich nicht.
Ich war vorbereitet. Ich stand auf, holte meine Tasche, zog die Schatulle heraus und stellte sie vor meine Mutter auf den Tisch.
«Habe ich noch nie gesehen!», kommentierte sie.
«Mach sie auf!», ich schob sie ihr zu, bevor Anna danach greifen konnte, die beinahe schon auf den Tisch geklettert war. Sie protestierte laut.
Ich war in Gedanken kurz bei ihr und den
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