Die Listensammlerin
fürs Notizbuch zu schade. Ich wiederholte sie im Kopf immer wieder, um keinen zu vergessen, und wusste, während ich sie immer wieder aufsagte und dazu sogar meine Lippen bewegte, ich würde keinen vergessen können. Danke, Frank! Ich hätte ihn umarmen sollen. An der Endhaltestelle steckte ich eilig mein Notizbuch in die Tasche, stieg aus und direkt in die U-Bahn in die entgegengesetzte Richtung wieder ein.
Ich wusste nicht, wohin. Zu Hause war Anna, und Anna war umringt und umsorgt von ihren liebevollen Großeltern und bestimmt von neuen Spielsachen, die diese ihr mitgebracht hatten. (Flox’ Mutter hatte uns gefragt, ob Anna noch gerne mit Lego spiele oder viel in ihrer Spielküche koche, und Flox hatte geantwortet, dass Annas Zimmer wie ein Spielzeugladen aussah, sie brauche nichts, aber ich hatte seine Mutter noch einmal angerufen und ihr für die Frage gedankt und ein paar Geschenkideen hinterlassen. Sie war Annas Großmutter und wollte ihr Spielsachen schenken, und für diese Selbstverständlichkeit war ich ihr dankbar – trotz bevorstehender OP investierte sie in Geschenke.) Ich wollte Anna nicht sehen, und warum dem so war, darüber dachte ich lieber nicht nach. Ich wollte eigentlich nur meine Großmutter sehen, ihr Fragen stellen, ich hatte so viele, ich schrieb auch die auf, «Fragen an meine Großmutter», und am Marienplatz stieg ich aus, um dorthin zu fahren, wo ich meiner Großmutter keine Fragen stellen konnte.
Im Heim war alles wie immer, das Tor bereits repariert, und meine Anwesenheit nahmen die Pfleger sowie die Alten mit einer Gleichgültigkeit hin, mit der sie auch die Abwesenheit meiner Großmutter ignorierten.
Frau Neitz wollte wissen, wie spät es war (halb fünf).
Herr Peitle, wann es essen geben würde (in anderthalb Stunden).
Frau Neitz wollte wissen, wie das Wetter draußen war (es regnete noch, windig war es auch, und meine Großmutter war irgendwo da draußen bei diesem Wetter im Nachthemd unterwegs).
Herr Müller-Deutz sagte etwas, was ich aufgrund seines Sabberns nicht richtig verstand. Hatte ich ihn jemals den Mund aufmachen sehen? Ich nickte.
Die polnische Pflegerin begrüßte mich mit Namen. Ich grüßte zurück und schämte mich, weil mir der ihre nicht einfiel.
Frau Neitz fragte, ob ich wüsste, warum es keine Krokodile gibt. («Was meinen Sie? Es gibt welche, nur nicht in unseren Breitengraden.» – «Nee, können Sie mir sagen, warum es keine gibt?») Tiere schienen sie zu beschäftigen. Ich fragte sie, warum, weil dieses Gespräch das Einzige war, das in diesem Moment meine Anwesenheit rechtfertigte, vor mir selbst rechtfertigte, weil alle anderen hier nicht an Rechtfertigungen interessiert waren, und kurz vergaß ich die Umstände und dachte philosophisch, auf der Metaebene, wie angenehm, wie leicht ein Leben sein musste, das keiner Rechtfertigungen, keiner Erklärungen, keiner logischen Zusammenhänge bedurfte. Frau Neitz starrte mich an, als sei ich die Verrückte hier. Dann sagte sie plötzlich: «Ich bin grad wirr im Kopf, passiert mir manchmal. Passiert uns allen manchmal. Ihnen nicht?» Über den schlafenden Mann sagte sie: «Das macht er schon ganz richtig, das ist das einzig Sinnvolle, was man hier tun kann», und dichtete dazu: «Hier spinnt jeder auf seine eigene Weise, der eine laut, der andre leise», und lachte. Zum Abendessen setzte ich mich zu ihnen an den Tisch. Sie nickten anerkennend, als hätte ich ein Kunststück vorgeführt, Herr Peitle klatschte und grunzte sogar.
Frank hatte geredet und erzählt und keine Pause gemacht und mich auch nicht angeschaut, und weil er so gealtert aussah seit gestern, und weil wir noch nie so zusammengesessen hatten, und weil wir in der Wohnung meiner verschwundenen, alzheimerkranken Großmutter zusammengesessen hatten, und weil mir die gesamte Welt aufgrund der Ereignisse oder vielleicht nur aufgrund meines aktuellen Schlafmangels surreal erschien wie eine Szene in meinem eigenen Buch, war ich immer wieder nicht sicher gewesen, ob das, was er da erzählte, nicht mir, sondern sich selbst oder der Fotografie in seinen Händen, ob es nicht erfunden oder den ersten Vorzeichen von Alzheimer geschuldet oder von mir geträumt oder eingebildet war. Meiner Mutter hatte ich früher, wenn ich meine Eltern in meiner Studienzeit besuchte, vorgeworfen, sie behandle mich, als sei ich ein Fernseher für sie. Sie setzte mir Essen vor und sich selbst und Frank auf die andere Seite des Tisches, wünschte mir noch einen guten
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