Die Löwen
mein Kleines«, sagte Jane leise.
Es war ein Wunder, dass das Baby immer noch schlief, dachte Ellis. Aber vielleicht schlief Chantal gar nicht: Vielleicht war sie wach und schrie und man hörte es bloß nicht.
Womöglich hatte der Soldat sie vorhin nicht hören können, weil gerade ein Hubschrauber über das Haus hinweggebraust war.
Die beiden Männer traten wieder aus dem Haus.
Einen Augenblick lang blieben sie im Hof stehen und sprachen miteinander. Dann humpelte Jean-Pierre zu der Holztreppe, die aufs Dach hinaufführte. Mit unverkennbarer Mühe stieg er auf die erste Stufe, weiter schaffte er es nicht. Er kehrte um. Wieder wechselten die Männer kurz ein paar Worte. Dann war es der Russe, der die Treppe Stufe für Stufe erklomm.
Ellis hielt den Atem an.
Anatoli erreichte die oberste Stufe und trat aufs Dach. Wie vor ihm der Soldat warf er einen Blick auf das unordentliche Bettzeug, blickte dann ringsum zu den anderen Häusern, richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf das Dach des Krämerhauses.
Wie vor ihm der Soldat stieß er mit der Stiefelspitze gegen Faras Matratze. Dann kniete er neben Chantal nieder.
Behutsam zog er die Decke zurück.
Jane schrie unwillkürlich auf, als Chantals rosiges Gesicht zum Vorschein kam.
Falls sie hinter Jane her sind, dachte Ellis, werden sie Chantal mitnehmen, weil sie wissen, dass Jane sich stellen wird.
Anatoli betrachtete sekundenlang das winzige Bündel.
»Oh, Gott, ich halt, das nicht aus!« stöhnte Jane.
Ellis drückte sie fest an sich und sagte: »Warte doch, warte ab.«
Obwohl er angestrengt spähte, konnte er den Gesichtsausdruck des Kindes nicht erkennen; die Entfernung war zu groß.
Der Russe schien nachzudenken.
Plötzlich fasste er offenbar einen Entschluss .
Er beugte sich vor, deckte das Baby sorgfältig zu, richtete sich dann auf und entfernte sich.
Jane brach in Tränen aus.
Vom Dach her sagte Anatoli etwas zu Jean-Pierre, und er schüttelte dabei nachdrücklich den Kopf. Dann stieg er die Treppe zum Hof hinunter.
»Warum hat er das getan?« grübelte Ellis laut. Anatolis Kopfschütteln war leicht genug zu deuten. Es besagte: Es ist niemand auf dem Dach. Der Russe belog Jean-Pierre also.
Aber warum? Zweifellos hätte Jean-Pierre das Baby mitnehmen wollen, doch daran lag Anatoli nichts. Des Weiteren ließ sich folgern, dass Jean-Pierre Jane finden wollte, der Russe jedoch nicht an ihr interessiert war.
Wem aber galt dann sein Interesse?
Die Antwort lag auf der Hand. Er war hinter Ellis her.
»Ich fürchte, ich habe Mist gebaut«, sagte Ellis halb im Selbstgespräch. Jean-Pierre wollte Jane und Chantal, Anatoli dagegen suchte ihn. Er wollte sich für die gestrige Demütigung rächen; er wollte verhüten, dass er, Ellis, mit dem Vertrag, den die Rebellenführer unterzeichnet hatten, in den Westen zurückkehrte; und er wollte Ellis vor Gericht stellen, um der Welt zu beweisen, dass hinter der afghanischen Rebellion die CIA stand.
An all das hätte ich gestern denken sollen, grübelte Ellis verbittert. Allerdings konnte Anatoli nicht wissen, dass ich mich hier befand - ich hätte ja auch in Darg oder Astana sein können oder bei Masud irgendwo in den Bergen. Es war also ein Lotteriespiel gewesen - und wäre ums Haar ein Haupttreffer geworden. Anatoli besaß einen guten Instinkt. Er war ein Gegner von Format. Und noch war die Schlacht nicht vorüber.
Jane weinte. Ellis strich ihr übers Haar und redete tröstend auf sie ein, während er beobachtete, wie Jean-Pierre und Anatoli zu den Hubschraubern zurückgingen, die mit rotierenden Drehflügeln auf den Feldern standen.
Der Kampfhubschrauber, der oben bei den Höhlen gelandet war, erhob sich wieder in die Luft und flog über Ellis und Jane hinweg. Ellis fragte sich automatisch, was mit den sieben verwundeten Guerillas in der Klinik geschehen war. Hatte man sie verhört oder gefangen genommen oder beides?
Jetzt ging alles sehr rasch. Die Soldaten eilten von der Moschee zum Transporthubschrauber und kletterten sofort hinein. Jean-Pierre und Anatoli stiegen in einen der Kampfhelikopter. Eine nach der anderen stiegen die hässlichen Maschinen auf, ein wenig schwankend, bis sie sich oberhalb der Bergrücken befanden. Dann schwenkten sie seitlich ab und hielten in gerader Linie auf Süden zu.
Ellis konnte sich denken, was in Janes Kopf vorging. »Warte noch ein bisschen , bis alle Hubschrauber fort sind - jetzt bloß nichts gefährden.«
Sie nickte stumm, die Augen voller
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