Die Löwen
Narren zu untersuchen? Wenn er die Kraft hatte, sie so anzubrüllen, dann würde er seine Blessuren zweifellos überleben.
Sie ging zu Schahazai, dem narbigen alten Kämpfer. Er war bereits von seiner Schwester Rabia, der Hebamme, untersucht worden, die jetzt dabei war, seine Wunden zu waschen.
Rabias Kräutersalben wirkten zwar nicht ganz so antiseptisch, wie es wünschenswert war, doch Jane glaubte, dass Rabias Mittel, alles in allem, für den Heilungsprozess eher günstig waren. So beschränkte sie sich darauf, Schahazai die Finger und seine Zehen bewegen zu lassen. Soweit schien bei ihm alles in Ordnung zu sein.
Wir haben Glück gehabt, ging es Jane durch den Kopf. Auf einmal waren die Russen da, doch wir sind mit leichteren Verletzungen davongekommen. Gott sei Dank. Vielleicht können wir jetzt hoffen, dass sie uns eine Weile in Frieden lassen - womöglich, bis die Route zum Khaiber-Paß wieder offen ist.
»Ist der Doktor ein Russe?« fragte Rabia abrupt.
»Nein.« Zum ersten Mal fragte sich Jane, was genau Jean-Pierre vorgehabt haben mochte. Wenn er mich gefunden hätte, dachte sie, was würde er zu mir gesagt haben?
»Nein, Rabia, er ist kein Russe. Aber er scheint sich auf ihre Seite geschlagen zu haben.«
»Er ist also ein Verräter.«
»Ja, ich glaube, das ist er.« Jane fragte sich, worauf die alte Rabia hinauswollte.
Irgendetwas hatte sie auf dem Herzen.
»Kann eine Christin von ihrem Mann geschieden werden, weil er ein Verräter ist?«
In Europa braucht’s viel weniger dazu, dachte Jane, und so sagte sie: »Ja.«
»Ist das der Grund, warum du jetzt den Amerikaner geheiratet hast?«
Jetzt begriff Jane. Dass sie die Nacht mit Ellis auf dem Berghang verbracht hatte, schien Abdullahs Beschuldigung, sie sei eine westliche Hure, bestätigt zu haben. Rabia, die seit Langem im Dorf Janes führende Anhängerin war, wollte Abdullahs Bezichtigung offenbar konterkarieren. Jane sei – gemäß den sonderbaren christlichen Gesetzen, von denen die wahren Gläubigen nichts wussten - in aller Eile von dem Verräter geschieden worden, um sodann, gemäß denselben Gesetzen, den Amerikaner zu heiraten. Also gut, dachte Jane.
»Ja«, sagte sie, »das ist der Grund, aus dem ich den Amerikaner geheiratet habe.«
Rabia nickte zufrieden.
Ein wenig fühlte Jane sich wirklich schuldig. Schließlich war sie ja tatsächlich mit bemerkenswerter Schnelligkeit vom Bett des einen Mannes übergewechselt in das des anderen. Aber lass sie denken, was sie wollen, sagte sie zu sich selbst.
Sie betrachtete sich nicht als mit Ellis verheiratet. Fühle ich mich von Jean-Pierre geschieden? fragte sie sich. Die Antwort lautete: Nein. Etwas anderes war es mit dem Gefühl, ihm gegenüber keine Verpflichtungen mehr zu haben. Damit ist es zu Ende, dachte sie. Nach dem, was er getan hat, schulde ich ihm nichts. Erleichtert fühlte sie sich nicht. Der Gedanke machte sie nur traurig.
Etwas unterbrach sie in ihren Grübeleien. Am Eingang zur Moschee schien plötzlich große Betriebsamkeit zu herrschen, und als Jane sich umdrehte, erblickte sie Ellis, der etwas in seinen Armen trug. Während er näher kam, sah sie, dass sein Gesicht ein einziger Ausdruck von Zorn war, und blitzhaft stellte sich bei ihr die Erinnerung ein, dass sie ihn schon einmal so gesehen hatte: als ein leichtsinniger Taxifahrer plötzlich einen scharfen U-Bogen machte und dabei mit einem jungen Motorradfahrer zusammenprallte, der ziemlich schwere Verletzungen erlitt. Ellis und Jane hatten das Ganze beobachtet und den Krankenwagen geholt - damals hatte Jane noch keinerlei medizinische Kenntnisse gehabt -, und Ellis hatte immer und immer wieder gesagt: »So überflüssig, es war so überflüssig.«
Sie erkannte, was es war, das er wie ein Bündel in den Armen hielt: Es war ein Kind; und Jane begriff, dass es tot war. Ihre erste unwillkürliche Reaktion war: Gott sei Dank, dass es nicht mein Baby ist. Aber als sie dann genauer hinblickte, sah sie, dass es das einzige Kind im Dorf war, das ihr manchmal wie ihr eigenes erschienen war, der einhändige Mousa, der Junge, dem sie das Leben gerettet hatte. Enttäuschung überwältigte sie, jenes Bewusstsein eines unwiederbringlichen Verlustes, das stets eingetreten war, wenn sie und Jean-Pierre lange und mit aller Kraft und dennoch vergeblich um das Leben eines Patienten gekämpft hatten. Aber dieser Verlust war besonders schmerzhaft, weil Mousa sich so tapfer gezeigt hatte und so entschlossen, mit seiner Behinderung
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