Die Löwen
Kendal-mint-Kuchen war natürlich nicht verfügbar, aber dafür hatte Jane ein einheimisches Ersatzprodukt gefunden, einen Kuchen aus getrockneten Maulbeeren und Walnüssen, nahezu unverdaulich, jedoch voll konzentrierter Energie. Außerdem hatte sie eine Menge Reis sowie einen großen Brocken Käse. Das einzige Souvenir, das Jane mitnahm, war ihre Sammlung Polaroid-Fotos von den Dörflern. Natürlich vergaß sie auch die Schlafsäcke nicht. Ein Topf kam noch hinzu und auch Ellis’ Spezialbeutel mit Sprengstoff, Zündschnur usw. Der Sprengstoff war ihre einzige Waffe. Ellis schnallte das gesamte Gepäck an Maggie, der sturen Stute, fest.
Es gab einen überstürzten und tränenreichen Abschied. Jane wurde umarmt von Zahara, von der alten Rabia und sogar von Halima, Mohammeds Frau. Wer die Szene ein wenig trübte, war Abdullah, der unmittelbar vor ihrem Aufbruch auf der Bildfläche erschien, auf den Boden spuckte und seine Familie zum Weitergehen trieb. Doch wenige Sekunden später kam seine Frau zurück, mit ängstlichem, dabei aber entschlossenem Gesichtsausdruck, und drückte Jane ein Geschenk für Chantal in die Hand, eine primitive Stoffpuppe mit winzigem Tuch und Schleier.
Jane umarmte und küsste Fara, die untröstlich war. Das Mädchen war dreizehn; nicht mehr lange, und sie würde einen Mann haben, den sie lieben und bewundern konnte.
Innerhalb der nächsten ein, zwei Jahre würde sie heiraten und zu ihrem Mann in das Haus ihrer Schwiegereltern ziehen. Sie würde acht bis zehn Kinder haben, von denen nur etwa die Hälfte älter würden als fünf. Später wurden dann ihre Töchter heiraten und von zu Hause fortgehen. Jene ihrer Söhne, welche die Kämpfe überlebten, würden gleichfalls heiraten und ihre Frauen mit nach Hause bringen. Wenn die Familie schließlich allzu groß wurde, zogen die Söhne mit ihren Frauen und Kindern in eigene Häuser, um dort neue Großfamilien zu gründen. Dann würde Fara eine Hebamme werden, genau wie ihre Großmutter Rabia. Hoffentlich, dachte Jane, erinnert sie sich dann noch an einiges von dem, was ich ihr beigebracht habe.
Ellis wurde von Alischan und Schahazai umarmt, und dann brachen sie auf, hinter sich laute Rufe: »Gott sei mit euch!« Die Dorfkinder begleiteten sie bis zur Fluss biegung. Dort verhielt Jane und blickte kurz zurück zu der kleinen Ansammlung lehmfarbener Häuser, die für ein Jahr ihre Heimat gewesen war. Sie wusste , dass sie niemals hierher zurückkommen würde, aber sie war sich auch sicher, dass sie, falls sie alles überstand, später einmal ihren Enkelkindern Geschichten über Banda erzählen würde.
In flottem Tempo folgten sie dem Fluss ufer. Unwillkürlich lauschte Jane auf das Geräusch von Hubschraubern.
Wie lange würde es dauern, bis die Russen begannen, nach ihnen zu suchen? Und würden sie nur ein paar Hubschrauber ausschicken, die mehr oder minder auf gut Glück Jagd auf sie machten – oder nahmen sich die Russen die Zeit, um eine gründliche Suchaktion zu organisieren? Welches von beiden Übeln war das geringere? Jane wusste es nicht. In weniger als einer Stunde erreichten sie Dascht-i-Rewat, die Ebene mit einer Festung, ein hübsches Dorf, dessen Häuser mit ihren schattigen Höfen sich am nördlichen Ufer des Flusses wie Tupfer ausnahmen. Hier hatte die Wagenfährte - eine mal sichtbare, mal unsichtbare Spur, die im Fünf-Löwen-Tal schon als Straße galt - ganz plötzlich ein Ende. Für Fahrzeuge, die robust genug waren, es bis hierher zu schaffen, bedeutete dies: Endstation. Immerhin gab es im Dorf ein wenig Pferdehandel. Die im Namen erwähnte Festung befand sich in einem Seitental und diente den Guerillas jetzt als Gefängnis, wo sie ein paar Regierungssoldaten, ein oder zwei Russen und gelegentlich auch einen Dieb eingesperrt hielten. Jane war einmal dort gewesen, um einen bemitleidenswerten Nomaden aus der westlichen Wüste zu behandeln, der sich, zum Militärdienst zwangsverpflichtet, im kalten Kabuler Winter eine Lungenentzündung geholt hatte und desertiert war. Er wurde einer › Umerziehung ‹ unterworfen, bevor man ihm erlaubte, sich den Guerillas anzuschließen.
Obwohl jetzt Mittagszeit war, dachten weder Jane noch Ellis daran, eine Pause einzulegen, um etwas zu essen. Sie hofften Saniz zu erreichen, bevor die Nacht herein-brach. Der Ort lag rund fünfzehn Kilometer entfernt am Kopf des Tals - eine Distanz, die sich auf ebenem Boden mühelos bewältigen ließ, in diesem Gelände jedoch viele Stunden dauern
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