Die Löwen
konnte.
Der letzte Teil der »Straße« führte bis zu den Häusern am Nordufer und noch zwischen ihnen hindurch. Das Südufer wurde begrenzt durch einen gut sechzig Meter hohen Felsen. Ellis führte das Pferd, und Jane trug Chantal in ihrer selbst gemachten Schlinge: dem Tragetuch, das es ihr ermöglichte, Chantal zu stillen, ohne stehen bleiben zu müssen. Das Dorf endete bei einer Wassermühle dicht an der Mündung des Seitentals mit dem Namen Rewat, das zum Gefängnis führte. Jetzt kamen sie nicht mehr so schnell voran. Der Weg wurde zusehends steiler. Unter der heißen Sonne behielten sie ein langsameres, doch stetes Tempo bei. Jane bedeckte ihren Kopf mit ihrem pattu, jener braunen Decke, die alle Reisenden bei sich hatten. Chantal lag im Schatten des Tragetuchs. Ellis hatte seine Chitrali-Kappe aufgesetzt, ein Geschenk von Mohammed.
Als sie die höchste Stelle des Passes erreichten, stellte Jane mit einiger Befriedigung fest, dass sie nicht einmal schwer atmete. Noch nie in ihrem Leben war sie körperlich so fit gewesen - und wahrscheinlich würde sie auch nie wieder so fit sein. Ellis keuchte nicht nur, sondern schwitzte auch, wie sie bemerkte. Er war ziemlich gut in Form, jedoch keineswegs so an strapaziöses, stundenlanges Gehen gewöhnt wie sie. Und das machte sie recht stolz - bis ihr plötzlich einfiel, dass er vor nur neun Tagen zwei Schusswunden abgekommen hatte.
Jenseits des Passes führte die Fährte den Berghang entlang, weit oberhalb des Fünf-LöwenFlusses . Hier war der Fluss für gewöhnlich träge. Dort, wo an tiefen Stellen das Wasser stillzustehen schien, schimmerte es sehr grün, fast so wie die Smaragde, die man rund um Dascht-i-Rewat finden konnte und die zum Verkauf nach Pakistan gebracht wurden.
Plötzliche Furcht befiel Jane, als ihre geübten Ohren aus der Luft, aus ferner Höhe, Motorengeräusche vernahmen: Hier oben auf dem kahlen Felsen gab es nirgends Deckung, und einen Augenblick lang fühlte sie sich fast versucht, vom Felsrand in den dreißig Meter tiefer liegenden Fluss zu springen. Aber es waren nur ein paar Düsenmaschinen, die viel zu hoch flogen, um auf dem Boden irgendjemanden ausmachen zu können.
Von nun an durchforschte Jane das Terrain unaufhörlich nach Bäumen, Büschen oder Mulden, wo man Deckung finden konnte. Ein Teufel in ihr sagte: Du brauchst all dies nicht zu tun, du könntest umkehren, du könntest dich stellen und wieder mit deinem Mann Zusammensein. Aber irgendwie klang das sehr rhetorisch, wie eine Formel oder Floskel.
Noch immer stieg der Pfad bergan, aber nicht mehr so steil, und so kamen sie besser vorwärts. Alle zwei oder drei Kilometer gab es ein Hindernis, das Zeit kostete: Aus den Seitentälern stürzten Bäche und Nebenflüsse hinunter zum großen Fluss , und sie mussten geduldig dem Pfad folgen, der irgendwo zu einem Steg aus Baumstämmen oder zu einer Furt führte. Dann musste Ellis die widerstrebende Maggie ins Wasser zerren, während Jane auf die Stute einschrie und von hinten mit Steinen warf.
In einer Schlucht, ein gutes Stück über dem Fluss , zog sich ein langer Bewässerungskanal hin. Der Zweck lag auf der Hand: Er sollte den kultivierbaren Teil der Ebene vergrößern.
Jane fragte sich, wie lange es wohl her sein mochte, dass es im Tal genügend Zeit und Menschen und Frieden gegeben hatte, um ein solch gewaltiges Projekt zu verwirklichen: Hunderte von Jahren womöglich.
Die Schlucht verengte sich, und der Fluss dort unten schien übersät von mächtigen Granitklötzen. In den Kalksteinfelsen am Ufer gab es Höhlen; Jane merkte sie sich als mögliche Verstecke. Die Landschaft wurde öde, und ein kalter Wind blies ins Tal hinab und ließ Jane, trotz des Sonnenscheins, für einen Augenblick frösteln. Das felsige Terrain und die steilen Uferfelsen waren für Vögel wie geschaffen; es gab Schwärme asiatischer Elstern.
Schließlich ging die Schlucht über in eine weitere Ebene. Fern im Osten konnte Jane eine Hügelkette sehen und dahinter die weißen Berge von Nuristan. Oh, mein Gott, dort wollen wir hin, dachte Jane, und sie hatte Angst.
In der Ebene stand eine kleine Ansammlung von Häusern, durchwegs recht ärmliche Unterkünfte.
»Das wird’s wohl sein«, sagte Ellis. »Willkommen in Saniz.«
Sie wanderten die Ebene entlang auf der Suche nach einer Moschee oder einer jener Steinhütten für Reisende. Als sie den Ort erreichten, trat ein Mann aus dem ersten Haus, und Jane erkannte Mohammeds hübsches Gesicht. Er war genauso
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