Die Löwen
Sie setzte sich auf den Boden, lehnte den Rücken gegen einen Baum und war froh, ihre Beine ausruhen zu können. Dann begann sie, Chantal zu stillen. Ellis band Maggie fest, nahm ihr das Gepäck ab, und die alte Stute begann im üppigen Grün beim Fluss zu grasen. Es ist ein langer Tag gewesen, dachte Jane, und ein schrecklicher Tag. Und letzte Nacht habe ich nicht viel Schlaf gehabt. Sie lächelte leise, als sie sich an die Nacht erinnerte.
Ellis holte Jean-Pierres Landkarten hervor und begann sie im rasch dahinschwindenden Abendlicht zu studieren. Jane blickte ihm über die Schulter.
Auf der von ihnen geplanten Route würden sie weiter talaufwärts zu einem Dorf namens Comar kommen, wo sie sich nach Südosten wenden würden in ein Seitental, das nach Nuristan führte. Dieses Tal hieß gleichfalls Comar, und Comar war auch der Name des ersten hohen Passes, den es zu bewältigen alt. »Fünftausend Meter«, sagte Ellis, auf den Pass deutend. »Da fängt’s an, kalt zu werden.«
Jane fröstelte unwillkürlich.
Als Chantal satt war, wechselte Jane ihre Windeln und wusch die verschmutzte im Fluss .
Als sie zurückkam, fand sie Ellis im Gespräch mit Masud. Sie hockte sich zu den beiden Männern.
»Du hast die richtige Entscheidung getroffen«, sagte Masud. »Du muss t aus Afghanistan raus, mit unserem Vertrag in deiner Tasche. Sollten dich die Russen fassen, ist alles verloren.«
Ellis nickte. Jane dachte: So habe ich Ellis noch nie erlebt - er behandelt Masud mit Ehrerbietung.
Masud fuhr fort. »Es ist allerdings eine außergewöhnlich mühevolle Reise. Die Fährte verläuft zum großen Teil oberhalb der Eisgrenze. Manchmal ist der Pfad im Schnee schwer zu finden, und wenn du dich dort verirrst, kommst du um.«
Jane fragte sich, worauf das alles hinauslief. Sie fand es beunruhigend, dass Masuds Worte ausschließlich an Ellis gerichtet waren - so als gehöre sie, Jane, nicht dazu.
»Ich kann dir helfen«, fuhr Masud fort. »Aber genau wie du möchte ich eine Abmachung treffen.« »Sprich weiter«, sagte Ellis.
»Ich werde dir Mohammed als Führer mitgeben, damit er dich heil durch Nuristan und nach Pakistan bringen kann.«
Jane hätte am liebsten einen Freudensprung gemacht. Mohammed als Führer! Damit bekam die Reise ein ganz anderes Gesicht.
»Und was verlangst du dafür von mir?« fragte Ellis.
» Dass du allein reist. Die Frau und das Kind des Doktors bleiben hier.«
Auch wenn es ihr fast das Herz brach: Jane begriff, dass sie ihre Zustimmung geben musste . Es war schiere Tollkühnheit, wenn Ellis und sie es allein versuchten – sie würden wahrscheinlich beide umkommen. Auf diese Weise konnte wenigstens Ellis’ Leben gerettet werden. »Du muss t annehmen«, sagte sie zu ihm.
Ellis lächelte sie an und blickte dann zu Masud. »Das kommt nicht infrage «, sagte er.
Masud, sichtlich gekränkt, erhob sich und ging zum Kreis der Guerillas zurück.
»Oh, Ellis, ob das klug war?« fragte Jane.
»Nein«, sagte er und nahm ihre Hand. »Aber so leicht lasse ich dich nicht gehen.«
Sie drückte seine Hand. »Ich … ich habe dir keine Versprechungen gemacht.«
»Ich weiß«, sagte er. »Wenn wir wieder raus sind, steht es dir frei, zu tun, was du möchtest – mit Jean-Pierre leben, falls du das willst und falls du ihn finden kannst. Ich gebe mich mit den nächsten beiden Wochen zufrieden, falls das alles ist, was ich bekommen kann. Im übrigen werden wir vielleicht gar nicht so lange leben.«
Das war nur zu wahr. Warum sich über die Zukunft den Kopf zerbrechen, dachte Jane, wenn es wahrscheinlich gar keine Zukunft gibt?
Masud kam zurück. Er lächelte wieder. »Ich bin kein guter Unterhändler«, sagte er. »Ich werde dir Mohammed auch so geben.«
16
EINE HALBE STUNDE vor Morgenanbruch starteten sie. Einer nach dem anderen hoben die Hubschrauber vom Betonboden ab und verschwanden jenseits der Flutlichtgrenze in die Nacht. Auch der Kampfhelikopter, in dem Jean-Pierre und Anatoli saßen, stieg wie ein plumper Vogel in die Luft und schloss sich den anderen an. Bald waren die Lichter des Luftstützpunktes nicht mehr zu sehen, und wieder einmal flogen Jean-Pierre und Anatoli über die Berggipfel hinweg in Richtung Fünf-Löwen-Tal .
Anatoli hatte ein Wunder zustande gebracht. In weniger als vierundzwanzig Stunden war es ihm gelungen, die wahrscheinlich größte Operation in der Geschichte des afghanischen Krieges in die Wege zu leiten - und er befehligte sie selbst.
Am Tag zuvor hatte er den
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