Die Löwen
fertig zu werden; sein Vater war so stolz auf ihn gewesen. Warum er? dachte Jane, während ihr Tränen in die Augen traten. Warum er?
Die Menschen sammelten sich um Ellis, doch sein Blick suchte Jane.
»Sie sind alle tot«, sagte er in der Dari-Sprache, damit ihn jeder verstehen konnte.
Einige der Frauen begannen zu weinen.
»Wie?« fragte Jane.
»Von den Russen erschossen. Alle.«
»O mein Gott.« Erst gestern Abend hatte sie gesagt: Keiner von ihnen wird sterben – an ihren Wunden, hatte sie gemeint. Und sie war fest davon überzeugt gewesen, dass jeder von ihnen, der eine schneller, der andere langsamer, seine volle Gesundheit und Kraft wiedergewinnen würde unter ihrer Pflege. Und nun waren alle - tot.
»Aber warum haben sie das Kind umgebracht?« rief sie. »Ich glaube, er hat sich gewehrt.« Jane runzelte verwundert die Stirn. Ellis drehte die Last in seinen Armen so, dass man Mousas Hand sehen konnte. Die kleinen Finger waren fest um den Griff des Messers geklammert, das ihm sein Vater geschenkt hatte. An der Klinge war Blut.
Plötzlich erklangen laute Klagerufe, und Halima drängte sich durch die Menge. Sie nahm die Leiche ihres Sohnes aus Ellis’ Armen und sank dann zu Boden, unaufhörlich seinen Namen schreiend. Die Frauen sammelten sich um sie. Jane wandte sich ab.
Sie winkte Fara, ihr zu folgen, und ging langsam nach Hause zurück. Es war erst wenige Minuten her, dass sie geglaubt hatte, das Dorf sei glimpflich davongekommen. Und nun hatten sieben Männer und ein Junge den Tod gefunden. Jane weinte nicht. Sie hatte keine Tränen mehr. Sie fühlte sich nur schwach in ihrer Trauer.
Sie betrat das Haus und setzte sich, um Chantal zu stillen. »Wie geduldig du gewesen bist, Kleines«, sagte sie, als sie dem Baby die Brust gab.
Ein oder zwei Minuten später trat Ellis ein. Er beugte sich zu ihr und küsste sie. Dann betrachtete er sie einen Augenblick und sagte: »Du siehst aus, als ob du wütend auf mich wärst.«
Erst jetzt wurde Jane bewusst , dass er recht hatte. »Männer sind so gewalttätig«, sagte sie verbittert. »Offenbar hat der Junge die Soldaten mit seinem Jagdmesser attackiert – wer hat ihn zu einem solchen Wahnsinn erzogen? Wer hat ihm eingeredet, es sei geradezu seine Pflicht, in seinem Leben so viele Russen wie möglich zu töten? Wer war da sein Vorbild? Doch nicht seine Mutter. Sondern sein Vater. Es ist Mohammeds Schuld, dass er tot ist - ja, Mohammeds Schuld und auch deine.« Ellis musterte sie verblüfft.
»Wieso meine?« Sie wusste , dass sie sehr grob zu ihm war, konnte sich jedoch nicht beherrschen. »Die Russen haben Abdullah, Alischan und Schahazai geschlagen, um von ihnen zu erfahren, wo du bist«, sagte sie. »Die haben nach dir gesucht. Das war der Zweck der ganzen Übung.«
»Ich weiß. Aber bin ich deshalb am Tod des kleinen Jungen schuld?«
»Es ist geschehen, weil du hier bist, wo du nicht hingehörst.«
»Vielleicht. Aber für das Problem weiß ich eine Lösung. Ich mache mich davon. Wenn ich bleibe, laufe ich nicht nur Gefahr, geschnappt zu werden - denn letzte Nacht hatten wir ein ganz unverschämtes Glück -, sondern riskiere auch, dass mein fragiler kleiner Plan in die Brüche geht, der Plan, die verschiedenen Stämme im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu vereinen. Es droht sogar noch Schlimmeres. Die Russen würden mich in einem Schauprozess vor Gericht stellen, um ein Maximum an Propaganda herauszuholen. Da, seht nur, wie die CIA versucht, die inneren Probleme eines Landes der Dritten Welt für ihre Zwecke auszubeuten. So in der Art etwa.«
»Du bist wirklich ein wichtiger Mann, wie?« Es schien sonderbar, dass all das, was hier in diesem abgelegenen Tal geschah, weltweite Auswirkungen haben sollte. »Aber du kannst nicht fort. Die Route zum Khaiber-Paß ist blockiert.«
»Es gibt eine andere Möglichkeit: die Butterfährte.«
»Oh, Ellis … die ist sehr schwierig - und gefährlich.« Sie stellte sich vor, wie er über die hohen, windgepeitschten Pässe klomm. Er konnte sich verirren und im Schnee erfrieren oder von den barbarischen Nuristanis ausgeraubt und ermordet werden. »Bitte, tu das nicht.«
»Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, würde ich sie wahrnehmen.«
Also würde sie ihn wieder verlieren, würde wieder allein sein. Der Gedanke deprimierte sie. Sie hatte mit Ellis nur eine einzige Nacht verbracht. Was hatte sie erwartet? Sie war sich nicht sicher. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so bald wieder verlieren würde«,
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