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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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war kalt. Auf der anderen Seite des kleinen, trüben Raums befand sich ein ähnliches Bett, nur lag Anatoli nicht mehr darauf. Wo die Eigentümer des Hauses die Nacht verbracht hatten, wusste Jean-Pierre nicht. Nachdem sie für eine Mahlzeit gesorgt und diese auch serviert hatten, waren sie von Anatoli fortgeschickt worden. Er behandelte ganz Afghanistan, als sei es sein Königreich, und vielleicht war es das auch.
    Jean-Pierre setzte sich auf und rieb sich die Augen. Dann entdeckte er Anatoli, der in der Türöffnung stand und ihn mit prüfendem Blick ansah.
    »Guten Morgen«, sagte Jean-Pierre.
    »Bist du je zuvor schon mal hier gewesen?« fragte Anatoli ohne jede Vorrede.
    Jean-Pierres Gehirn war noch von Schlaf benebelt. »Wo?«
    »In Nuristan«, sagte Anatoli ungeduldig.
    »Nein.«
    »Merkwürdig.«
    Jean-Pierre fand das Gespräch, zumal am frühen Morgen, ziemlich irritierend. »Warum?«
    fragte er gereizt. »Warum ist das merkwürdig?«
    »Ich habe vor ein paar Minuten mit dem neuen Führer gesprochen.«
    »Wie heißt er?«
    »Mohammed, Muhammad, Mahomet, Mahmoud – einer von diesen Namen, die noch eine Million anderer tragen.«
    »In welcher Sprache hast du denn mit ihm gesprochen?«
    »In dem üblichen Kauderwelsch aus Russisch, Französisch, Englisch und Dari. Er fragte mich, wer gestern Abend im zweiten Hubschrauber gekommen sei. Ich erwiderte: › Ein Franzose, der die Flüchtlinge identifizieren kann. ‹ Er fragte nach deinem Namen, also nannte ich ihn. Ich wollte, dass er weitersprach, um herauszubekommen, warum er so interessiert war. Aber er stellte keine weiteren Fragen. Es war fast, als ob er dich kannte.«
    »Unmöglich.«
    »Scheint so.«
    »Warum fragst du ihn nicht noch mal?« fragte Jean-Pierre.
    »Es hat keinen Sinn, einem Mann eine Frage zu stellen, bevor man sich darüber im klaren ist, ob er Gründe hat, einen anzulügen.« Ohne ein weiteres Wort ging Anatoli hinaus.
    Jean-Pierre stand auf. Er hatte in Hemd und Unterkleidung geschlafen. Jetzt zog er sich seine Hosen und Stiefel an, hängte sich den Uniformmantel um die Schultern und verließ das Zimmer.
    Von einer primitiven Holzveranda aus konnte er das ganze Tal überblicken. Der Fluss strömte träge in breiten Schleifen zwischen den Feldern hindurch. Ein Stück weiter südwärts mündete er in einen lang gestreckten, von Bergen gesäumten See. Noch war die Sonne nicht aufgegangen. Es war eine schöne Szenerie. Jean-Pierre fiel ein, dass diese Gegend zum fruchtbarsten und am stärksten bevölkerten Teil von Nuristan gehörte. Der Rest war hauptsächlich Wildnis.
    Die Russen hatten eine Feldlatrine gegraben, wie Jean-Pierre zufrieden bemerkte. Die Gewohnheit der Afghanen, auch Gewässer, denen sie ihr Trinkwasser entnahmen, als Abort zu benutzen, war der Grund dafür, dass sie alle Würmer hatten. Die Russen würden dieses Land, wenn sie es erst einmal richtig unter Kontrolle hatten, schon zu modernisieren wissen.
    Er ging zur Wiese hinunter, benutzte die Latrine, wusch sich im Fluss und bekam von einer Gruppe Soldaten, die um ein Kochfeuer standen, einen Becher Kaffee.
    Der Suchtrupp war aufbruchbereit. Anatoli hatte am Abend zuvor den Entschluss gefasst , die Suche von hier aus zu dirigieren, indem er mit der Gruppe ständigen Sprechfunkkontakt hielt. Die Hubschrauber sollten startklar warten, um ihn und Jean-Pierre zum Suchtrupp bringen zu können, sobald die Beute gesichtet war.
    Während Jean-Pierre seinen Kaffee schlürfte, kam Anatoli vom Dorf her übers Feld. »Hast du den verdammten Führer gesehen?« fragte er.
    »Nein.«
    »Er scheint verschwunden zu sein.«
    Jean-Pierre hob seine Augenbrauen. »Genau wie der letzte.«
    »Diese Menschen sind unmöglich. Ich werde die Dörfler fragen müssen. Komm mit und dolmetsche.«
    »Aber ich spreche deren Sprache nicht.«
    »Vielleicht verstehen sie dein Dari.«
    Jean-Pierre ging mit Anatoli über die Wiese zurück zum Dorf. Während sie den schmalen Weg zwischen den einfachen Häusern emporstiegen, rief jemand Anatoli etwas auf russisch zu. Sie blieben stehen und blickten in die Richtung, aus der der Ruf kam. Zehn oder zwölf Männer, einige Nuristanis in weißen Gewändern und ein paar Russen in Uniform, standen eng gedrängt auf einer Veranda und umringten irgendetwas auf dem Boden. Sie traten beiseite, um Anatoli und Jean-Pierre durchzulassen. Was da auf dem Boden lag, war ein toter Mann.
    Die Dörfler schwatzten aufgeregt durcheinander und deuteten auf die Leiche. Dem Mann war die

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