Die Löwen
sich wieder klang zu gewollt und melodramatisch.
Habt ihr wirklich geglaubt, ihr könntet uns entkommen? wirkte zu rhetorisch. Ihr hattet niemals eine Chance klang zweifellos besser, aber auch schon ein bisschen lahm.
Als sie die Berge erreichten, wurde es merklich kühler. Jean-Pierre zog sich seinen Mantel an, stand bei der offenen Tür und blickte hinab. In der Tiefe sah er ein Tal, das dem Fünf-Löwen-Tal ein wenig ähnelte, mit einem Fluss in der Mitte, der jetzt zum Teil im Schatten der Berge lag. Auf den Gipfeln und Graten zu beiden Seiten sah man Schnee, von dem das Tal selbst völlig frei war.
Jean-Pierre ging nach vorn und sprach direkt ins Ohr des Piloten. »Wo befinden wir uns jetzt?«
»Dies hier nennt man das Sakardara-Tal«, erwiderte der Mann. »Wenn wir weiter nach Norden kommen, ändert sich der Name und man spricht vom Nuristantal . Es führt uns bis nach Atati.«
»Wie lange noch, bis wir das Dorf erreichen?«
»Zwanzig Minuten.«
In Jean-Pierres Ohren klang das wie eine Ewigkeit. Seine Ungeduld mit Mühe unterdrückend, ging er wieder zu seinem Platz auf der Bank. Die Soldaten dort saßen still da. Sie beobachteten ihn, schienen ihn zu fürchten. Vielleicht glaubten sie, er gehöre zum KGB.
Aber es stimmt ja, ich gehöre zum KGB, dachte er plötzlich.
Woran mochten die Soldaten sonst noch denken? Vielleicht an ihre Freundinnen und Frauen daheim? Ihre Heimat würde von jetzt an auch seine Heimat sein. Er würde in Moskau eine Wohnung haben. Konnte es zwischen ihm und Jane jetzt ein glückliches Eheleben geben? Sie und Chantal sollten sich in seiner Wohnung wohlfühlen , während er, genau wie diese Soldaten, in fremden Ländern einen gerechten Kampf kämpfen würde, um zwischendurch voller Vorfreude an den nächsten Urlaub zu denken, der ihn nach Hause führte, wo er dann wieder mit seiner Frau schlief und staunend registrierte, dass seine Tochter schon wieder ein Stück gewachsen war. Ich habe Jane verraten, und sie hat mich verraten, dachte er; vielleicht können wir einander verzeihen, und sei es auch nur Chantals wegen.
Was ist mit Chantal geschehen?
Bald würde er es wissen. Der Hubschrauber verlor an Höhe. Sie waren fast am Ziel. Jean-Pierre stand auf, um wieder durch die Tür zu blicken. Sie schwebten über einer Wiese, unweit einer Stelle, wo ein kleinerer Fluss in einen sehr breiten mündete. Es war ein hübscher Ort: nur wenige Häuser an einem Hang, wo sie in der für Nuristan charakteristischen Weise übereinanderzustehen schienen - man hatte den Eindruck, jedes ruhe gleichsam auf den Schultern des tiefer gelegenen. Jean-Pierre erinnerte sich, dergleichen schon einmal gesehen zu haben – in einem Bildband über den Himalaja.
Der Hubschrauber setzte auf.
Jean-Pierre sprang sofort hinaus. Auf der anderen Seite der Wiese kam eine Gruppe russischer Soldaten - zweifellos der Suchtrupp - aus einem der unteren Holzhäuser.
Ungeduldig wartete Jean-Pierre auf den Piloten, seinen Dolmetscher. Endlich stieg der Mann aus der Maschine. »Gehen wir!« sagte Jean-Pierre und setzte sich in Bewegung.
Er musste sich beherrschen, um nicht einfach loszurennen. Ellis und Jane befanden sich wahrscheinlich in dem Haus, aus dem jetzt der Suchtrupp kam, und mit geschwinden Schritten strebte Jean-Pierre darauf zu. Wut stieg in ihm auf, das Gefühl eines lange unterdrückten, gewaltigen Zorns. Zum Teufel mit aller sorgsam bemessenen Würde, dachte er: Ich werde diesem widerlichen Pärchen genau sagen, was ich von ihm halte.
Als sie nicht mehr weit vom Suchtrupp waren, begann der Offizier an der Spitze der Gruppe zu sprechen. Jean-Pierre blickte zu seinem Piloten und sagte: »Fragen Sie ihn, wo die beiden Amerikaner sind!« Der Pilot tat es, und
der Offizier deutete zum Holzhaus. Ohne ein weiteres Wort ging Jean-Pierre an dem Suchtrupp vorbei.
Als er in das primitive Haus stürmte, kochte er geradezu vor Wut. In einer Ecke standen ein paar Russen, die offenbar gleichfalls zum Suchtrupp gehörten. Sie blickten ihn an und traten dann beiseite, um Platz für ihn zu machen.
In der Ecke saßen zwei Menschen auf einer Bank, an die man sie gefesselt hatte.
Jean-Pierre starrte sie an wie im Schock. Die Kinnlade klappte herunter, und das Blut entwich aus seinem Gesicht. Vor sich sah er einen dünnen, anämisch wirkenden Jungen von achtzehn oder neunzehn Jahren mit langem, schmutzigem Haar und einer Art Schnauzbart sowie ein dickbusiges blondes Mädchen mit Blumen im Haar. Der junge Mann blickte
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