Die Löwen
dem anderen Führer die Kehle durchgeschnitten wurde.« Er sprang aus der Maschine, und Jean-Pierre folgte ihm.
Sie gingen zu der Stelle, wo der tote Afghane lag. Die Vorderseite seines Körpers war eine Masse von zerfetztem Fleisch, und von seinem Gesicht war kaum die Hälfte übrig.
Dennoch war Anatoli sicher. »Das ist der zweite Führer. Der Körperbau stimmt, auch die Hautfarbe, und ich erkenne diesen Beutel wieder.« Er bückte sich und hob vorsichtig die Schusswaffe hoch. »Aber warum trägt er eine Maschinenpistole bei sich?«
Etwas war aus dem Beutel auf die Erde gefallen. Jean-Pierre hob es auf und betrachtete es. Es war ein Polaroid-Foto von Mousa. »Oh, mein Gott«, sagte er. »Ich glaube, ich verstehe.«
»Was verstehst du?« fragte Anatoli. »Der Tote stammt aus dem Fünf-Löwen-Tal «, sagte Jean-Pierre. »Er ist einer von Masuds höchsten Unterführern. Dies ist ein Foto von seinem Sohn Mousa. Jane hatte den Jungen geknipst. Ich erkenne auch den Beutel, in dem er seine MP versteckt hatte, er hat Ellis gehört.«
»Ja, und?« fragte Anatoli ungeduldig. »Was folgerst du daraus?«
Jean-Pierres Gehirn war überaktiv; es arbeitete schneller, als er seine Gedanken in Worte umsetzen konnte. »Mohammed hat euren Führer getötet, um seine Stelle einzunehmen«, begann er. »Ihr konntet ja nicht wissen, dass er nicht der war, für den er sich ausgab. Die Nuristanis wussten natürlich, dass er keiner der Ihren war, aber das spielte keine Rolle, weil sie gar nicht wussten , dass er sich als Einheimischer ausgab. Und selbst wenn sie es gewusst hätten, hätten sie euch nichts sagen können, denn er war ja auch euer Dolmetscher. In der Tat gab es hier nur einen Menschen, der ihn entlarven konnte, näm-lich …«
»Du«, sagte Anatoli. »Weil du ihn kanntest.«
»Dieser Gefahr war er sich bewusst , und er blieb vor mir auf der Hut. Aus diesem Grund hat er dich heute Morgen gefragt, wer gestern nach Einbruch der Dunkelheit eingetroffen war. Du nanntest ihm meinen Namen, und er machte sich auf der Stelle davon.« Jean-Pierre runzelte die Stirn: Irgendwie passte das nicht recht zusammen. »Aber weshalb hat er sich in offenem Gelände aufgehalten? Er hätte sich doch irgendwo im Wald oder in einer Höhle verstecken können. Wir hätten dann viel länger gebraucht, um ihn zu finden.
Es ist, als hätte er nicht damit gerechnet, verfolgt zu werden.«
»Weshalb sollte er auch?« sagte Anatoli. »Als der erste Führer verschwand, haben wir hinter dem ja auch keinen Suchtrupp hergeschickt - wir besorgten uns einfach einen neuen Führer und machten weiter: keine Untersuchung, keine Verfolgung. Was diesmal anders verlief - und für Mohammed verhängnisvoll -, war die Tatsache, dass die Einheimischen die Leiche fanden und uns des Mordes beschuldigten. Trotzdem dachten wir daran, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er hatte einfach Pech.«
»Er wusste nicht, dass er es mit einem so vorsichtigen Mann wie dir zu tun hatte«, sagte Jean-Pierre. »Nächste Frage: Was für ein Motiv hatte er eigentlich? Warum all die Umstände, um die Stelle des ursprünglichen Führers einzunehmen?«
»Vermutlich, um uns in die Irre zu führen. Wahrscheinlich war alles, was er uns erzählte, erlogen. Er hat Ellis und Jane nicht gestern Nachmittag an der Mündung des Linar-Tals gesehen. Die beiden sind nicht in südlicher Richtung nach Nuristan abgebogen. Die Einwohner von Mundol haben nicht bestätigt, dass gestern zwei Fremde mit einem Baby durch ihr Dorf kamen und südwärts weiterwanderten - Mohammed hat ihnen diese Frage überhaupt nicht gestellt. Er wusste , wo sich die Flüchtigen befanden – «
»Und er führte uns natürlich in die entgegengesetzte Richtung!« rief Jean-Pierre, von neuem Schwung erfüllt. »Der erste Führer verschwand gerade, nachdem der Suchtrupp das Dorf Linar verlassen hatte, nicht?«
»Ja. Wir können also davon ausgehen, dass die Berichte bis zu diesem Zeitpunkt der Wahrheit entsprechen - folglich sind Ellis und Jane durch jenes Dorf gekommen. Später trat dann Mohammed in unsere Dienste und führte uns südwärts – «
»Weil Ellis und Jane nordwärts zogen!« sagte Jean-Pierre triumphierend. Anatoli nickte grimmig. »Mohammed hat ihnen einen Tag Vorsprung verschafft - höchstens. Dafür hat er sein Leben gegeben. War es das wert?«
Jean-Pierre betrachtete noch einmal das Polaroid-Foto von Mousa. Der kalte Wind ließ es in seiner Hand zittern. »Weißt du«, sagte er, »ich glaube, Mohammeds
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