Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
war, des ihm in Afghanistan je zu Gesicht gekommen war. Hatte Jane tatsächlich diese nackte, eisige, unbarmherzige Mondlandschaft mit einem Baby in den Armen durchquert? Sie muss mich wirklich hassen, dachte er, wenn sie all dies auf sich nimmt, um von mir fortzukommen. Jetzt wird sie wissen, dass alles vergeblich war.
    Sie gehört für immer mir.
    Aber war sie auch wirklich gefangen genommen worden? Er fürchtete eine weitere Enttäuschung. Vielleicht würde sich herausstellen, dass der Vortrupp abermals ein Hippie-Paar erwischt hatte, oder zwei fanatische Bergsteiger, womöglich sogar zwei Nomaden, die ein wenig wie Europäer aussahen.
    Anatoli deutete auf den Kantiwar-Paß, den sie jetzt überflogen. »Sieht aus, als ob sie ihr Pferd verloren hätten«, rief er durch die Geräusche der Motoren und des Windes Jean-Pierre ins Ohr. Tatsächlich erkannte Jean-Pierre die Umrisse eines toten Pferdes, dort im Schnee unterhalb des Passes. Ob das wirklich Maggie war? fragte er sich. Wäre gewiss nicht schade um dieses störrische Biest.
    Sie flogen ins Kantiwar-Tal hinunter und hielten Ausschau nach dem Vortrupp. Schließlich sahen sie Rauch:
    Irgendjemand hatte ein Feuer entzündet, um dem Hubschrauber den Weg zu weisen. Die Maschine hielt auf einen Streifen ebener Erde zu, nahe dem Eingang zu einer Schlucht.
    Jean-Pierre spähte angestrengt, während sie rasch an Höhe verloren: Er sah drei oder vier Männer in russischen Uniformen, doch Jane konnte er nirgends entdecken.
    Der Hubschrauber setzte auf. Jean-Pierre schlug das Herz bis zum Halse. Er sprang hinunter auf den Boden. Vor innerer Anspannung war ihm fast übel. Gleich darauf stand Anatoli neben ihm. Der Hauptmann führte sie fort vom Hubschrauber und hinunter in die Schlucht.
    Und dort waren sie, die Flüchtigen.
    Jean-Pierre hatte das Gefühl, der Folter entronnen zu sein und den Folterer jetzt in seiner Gewalt zu haben. Jane saß in der Nähe eines Bachs auf dem Boden. Sie hatte Chantal auf dem Schoß. Hinter ihr stand Ellis. Beide wirkten erschöpft und demoralisiert, geschlagen.
    Jean-Pierre blieb stehen. »Komm her«, sagte er zu Jane.
    Sie erhob sich und ging auf ihn zu. Er sah, dass sie Chantal in einer Art Schlinge trug, die sie sich um den Hals gelegt hatte, sodass ihre Hände frei blieben . Ellis wollte ihr folgen.
    »Du nicht«, sagte Jean-Pierre. Ellis blieb stehen.
    Jane stand vor Jean-Pierre und sah zu ihm hoch. Er hob die rechte Hand und ließ sie mit aller Kraft seitlich in Janes Gesicht klatschen. Noch nie hatte ihm ein ausgeteilter Hieb eine solche Befriedigung verschafft. Sie taumelte rückwärts und schwankte, sodass er glaubte, sie werde stürzen. Aber Jane blieb auf den Beinen und starrte ihn trotzig an, während über ihr Gesicht Tränen liefen, die ihr der Schmerz in die Augen trieb. Über ihre Schulter hinweg konnte Jean-Pierre sehen, dass Ellis plötzlich einen Schritt vorwärts machte, sich jedoch sofort beherrschte. Jean-Pierre fühlte sich leicht enttäuscht. Hätte Ellis sich als Janes Beschützer aufgespielt, so wäre er von den Soldaten zusammengeschlagen worden. Aber was tat’s? Er würde schon bald seine Prügel bekommen.
    Jean-Pierre hob wieder die Hand, um Jane zu schlagen. Sie zuckte zurück und barg Chantal schützend in ihren Armen. Jean-Pierre besann sich. »Dafür ist später noch viel Zeit«, sagte er, während er die Hand sinken ließ. »Sehr viel Zeit.«
     

     
     
    Jean-Pierre drehte sich um und ging zum Hubschrauber zurück. Jane blickte hinab zu Chantal. Das Baby erwiderte den Blick, hellwach, jedoch nicht hungrig. Jane drückte das Kind an sich, als sei Chantal es, die jetzt Trost brauchte. In gewisser Weise war Jane froh, dass Jean-Pierre sie geschlagen hatte, obschon ihr noch immer das Gesicht brannte vor Schmerz und vor Scham. Der Schlag kam einer Scheidungsurkunde gleich: Ihre Ehe mit Jean-Pierre war vorüber, endgültig und unwiderruflich, und Jane trug keine Verantwortung mehr. Hätte Jean-Pierre geweint oder sie um Verzeihung gebeten oder sie angefleht, ihn nicht zu hassen für das, was er ihr angetan hatte, so wäre sie wohl in Gewissensnot geraten. Der Schlag jetzt setzte all dem ein Ende. Sie empfand nichts mehr für Jean-Pierre: nicht einen Rest von Liebe oder Achtung oder gar Leidenschaft. Es ist schon seltsam, dachte sie, dass ich mich nun, da ich ihm doch in die Hände gefallen bin, völlig frei fühle von ihm.
    Bis jetzt hatte der Hauptmann, der Mann auf dem Pferd, das Kommando gehabt, doch nun

Weitere Kostenlose Bücher