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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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mehr. Und das, dachte Jane, mochte genügen: Inzwischen würden sie so viele Weggabelungen, Seitentäler und alternative Routen hinter sich gebracht haben, dass sie praktisch unaufspürbar waren.
    Aber vielleicht, dachte sie müde, ist dies schon das Ende. Das Ende für uns. Wenn die Soldaten sich doch nur beeilen würden. Ich kann das Warten nicht ertragen. Ich habe solche Angst.
    Sie konnte Ellis deutlich sehen. Auf Händen und Knien bewegte er sich oben auf dem Felsen voran. Und sie konnte auch den Suchtrupp sehen, wie er talwärts marschierte.
    Selbst aus dieser Entfernung wirkten die Soldaten schmutzig, und ihre schlaffen Schultern und die nachschleppenden Füße bewiesen zur Genüge, wie ausgelaugt die Leute waren und wie mutlos. Keiner der Russen hatte Jane bisher erspäht; sie verschmolz gleichsam mit der Landschaft.
    Ellis kauerte hinter einem Felshöcker. Den Kopf seitlieh vorgeschoben, hatte er die sich nähernden Soldaten genau im Blickfeld. Jane konnte ihn deutlich sehen, während er für die Russen praktisch unsichtbar blieb. Zugleich hatte er klare Sicht auf die Stelle, wo sich im Felsspalt der Sprengstoff befand.
    Die Soldaten erreichten den Eingang zur Schlucht und begannen mit dem steileren Abstieg. Einer von ihnen saß auf dem Pferd: Er hatte einen Schnurrbart und war vermutlich der Offizier. Ein anderer Mann trug eine Chitrali-Kappe. Das ist Halam, dachte Jane; Halam, der Verräter. Nach all dem, was Jean-Pierre getan hatte, erschien ihr Verrat als unverzeihliches Verbrechen. Da waren noch fünf andere, und sie hatten alle kurz geschorenes Haar und Uniformkäppchen und jugendliche, glatt rasierte Gesichter.
    Zwei Männer und fünf Jungen, dachte sie.
    Sie beobachtete Ellis. Jeden Augenblick würde er ihr das Zeichen geben. Der Hals fing an, ihr wehzutun vom unablässigen Emporstarren zu Ellis dort auf dem Fels. Die Soldaten hatten Jane noch immer nicht entdeckt; sie konzentrierten sich auf den steinigen Weg zu ihren Füßen. Schließlich drehte sich Ellis zu Jane herum, hob die Arme über seinen Kopf und schwenkte sie langsam und nachdrücklich hin und her.
    Jane blickte wieder zu den Soldaten. Einer von ihnen streckte die Hand nach dem Zaumzeug des Pferdes, um ihm über den unebenen Boden zu helfen. Jane hielt die spritzenförmige Auslösevorrichtung in der linken Hand. Der gekrümmte Zeigefinger ihrer rechten Hand befand sich im Abzugsring. Ein einziger Ruck würde die Zündschnur in Gang setzen und das TNT zur Explosion bringen, sodass der gesprengte Felsen die Verfolger unter sich begraben musste . Fünf Jungen, dachte sie. Zur Armee gegangen, weil sie arm oder dumm waren oder beides, oder weil man sie eingezogen hatte. Stationiert in einem kalten, unwirtlichen Land, wo die Menschen sie hassten . Waren durch gebirgige, eisige Wildnis marschiert. Würden begraben liegen unter Unmassen von zersplittertem Gestein, mit zerschmettertem Schädel, die Lunge voll Staub, mit zerquetschtem Brustkorb und gebrochener Wirbelsäule, schreiend, erstickend, verblutend in Qual und in Schrecken. Fünf Briefe, die zu schreiben waren an stolze Väter und angsterfüllte Mütter in der Heimat: bedauern, mitteilen zu müssen, im Einsatz gefallen, historischer Kampf gegen die Mächte der Reaktion, heldenhafte Bewährung, posthume Ordensverleihung,tiefstes Mitgefühl. Allertiefstes Mitgefühl. Leere Floskeln, für die sie nur Verachtung haben würde, die Mutter, die sich daran erinnerte, wie sie ihren Sohn in Furcht und Schmerzen geboren hatte, wie sie dann in harten und weniger harten Zeiten für seine Nahrung sorgte, wie sie ihm beibrachte, aufrecht zu gehen und sich die Hände zu waschen und seinen Namen zu buchstabieren, wie er zur Schule ging und sie ihn wachsen und wachsen sah, bis er fast so groß war wie sie selbst, dann sogar größer, bis er soweit wer, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen und ein gesundes Mädchen zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen und seiner Mutter Enkelkinder zu schenken.
    Und dann: der Gram der Mutter, wenn ihr bewusst wurde, dass alles, was sie getan hatte, die Arbeit, die Sorgen, das Leid, umsonst gewesen war, dieses Wunder, ihr Mann-Kind, war in einem sinnlosen Krieg zerstört worden, ein Opfer prahlerischer, großmäuliger Männer. Das Gefühl des Verlustes. Ja. Das Gefühl des Verlustes.
    Jane vernahm Ellis’ laute Stimme. Sie blickte auf. Er stand jetzt, ohne sich darum zu scheren, ob er gesehen wurde oder nicht. Er winkte und rief, nein, schrie: »Jetzt!

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