Die Löwen
fiel oder von einer Bombe getötet wurde oder des Nachts geraubt von einem Schneetiger. Bislang hatte sie Jean-Pierre nichts davon erzählt, weil sie nicht wollte, dass er sie für verrückt hielt. Es hatte Konflikte gegeben mit der Hebamme, Rabia Gul. Sie hatte behauptet, in den ersten drei Tagen sollten Frauen ihr Baby nicht selbst stillen, weil das, was aus ihren Brüsten käme, keine Milch sei. Jane fand diesen Gedanken lächerlich: Dass die Natur in den Brüsten junger Mütter etwas produziere, das für die neugeborenen Babys schlecht sei, und so ignorierte sie den Rat der Alten. Außerdem hatte Rabia gesagt, das Baby sollte vierzig Tage lang nicht gewaschen werden, doch Jane badete Chantal, wie im Westen üblich, jeden Tag.
Dann hatte Jane Rabia dabei ertappt, wie sie Chantal gezuckerte Butter gab, die ihr das Kind von den runzligen Fingerkuppen schleckte, und Jane hatte sehr verärgert reagiert.
Tags darauf wurde Rabia zu einer anderen Entbindung gerufen, und sie schickte Jane eine ihrer vielen Enkelinnen zu Hilfe, eine Dreizehnjährige namens Fara. Das erwies sich geradezu als Glücksfall. Fara hatte keine vorgefassten Ansichten über Kinderpflege; sie tat ganz einfach, was man ihr sagte. Eine Bezahlung verlangte sie nicht - sie arbeitete für das, was sie zu essen erhielt, und das war besser als im Haus ihrer Eltern. Außerdem war es eine gute Gelegenheit für sie, etwas über Babypflege zu lernen, als Vorbereitung für ihre eigene Ehe, denn in ein oder zwei Jahren würde sie wahrscheinlich heiraten. Jane glaubte im übrigen, dass Rabia in Fara eine zukünftige Hebamme heranzog, und zweifellos würde es ihrer Reputation zustattenkommen , wenn sie der westlichen Krankenschwester bei der Babypflege geholfen hatte.
Nachdem Rabia aus dem Wege war, kam auch Jean-Pierre zu seinem Recht. Chantal gegenüber verhielt er sich behutsam und voller Zuversicht, mit Jane ging er ebenso rücksichts-wie liebevoll um. Er war es auch gewesen, der mit allem Nachdruck vorgeschlagen hatte, Chantal abgekochte Eselsmilch zu geben, wenn sie nachts aufwachte, und aus seinem medizinischen Arsenal hatte er eine Saugflasche improvisiert, sodass er selbst gegebenenfalls nachts aufstehen konnte. Natürlich wurde auch Jane immer wach, wenn Chantal zu schreien begann, und sie blieb auch wach, solange Jean-Pierre der Kleinen die Flasche gab; doch war dies weit weniger ermüdend, und endlich wurde sie das Gefühl äußerster, verzweifelter Erschöpfung los, das sie so sehr mitgenommen hatte.
Schließlich hatte sie, obwohl noch immer besorgt und ohne rechtes Selbstvertrauen, in sich ein Maß an Geduld entdeckt, wie sie es nie zuvor besessen hatte; daraus schöpfte sie – wenngleich es nicht das tiefe, instinktive Wissen war oder die Sicherheit, auf die sie gehofft hatte – die Kraft, die täglichen Krisen mit Gleichmut zu ertragen. Selbst jetzt, das wurde ihr bewusst bewusst , war sie fast eine Stunde lang von Chantal fort gewesen, ohne sich Sorgen zu machen.
Die Gruppe der Frauen erreichte die Ansammlung von Häusern, die den Kern des Dorfes bildeten, und eine nach der anderen verschwand hinter den Lehmmauern ihres Hofs.
Jane scheuchte eine Schar Hühner auf und schob eine magere Kuh beiseite, um in ihr Haus zu gelangen. Drinnen fand sie Fara, die beim Lampenlicht für Chantal sang. Das Baby war hellwach und lauschte mit weit geöffneten Augen, offensichtlich fasziniert von Faras Gesang. Es war ein Schlummerlied mit einfachen Worten und einer komplexen, orientalisch klingenden Melodie. Sie ist ein so hübsches Baby, dachte Jane, mit ihren Pausbäckchen und ihrem winzigen Naschen und ihren blauen, blauen Augen.
Sie trug Fara auf, Tee zu machen. Das Mädchen war unglaublich scheu und hatte vor Angst gezittert, als sie das erste Mal gekommen war, um für die Ausländerin zu arbeiten; aber ihre Nervosität hatte sich allmählich gelegt, und ihre Furcht vor Jane hatte sich in eine Art bewundernder Ergebenheit verwandelt.
Wenige Minuten später trat Jean-Pierre herein. Seine ausgebeulten Baumwollhosen und sein Hemd waren schmutzig und voller Blutflecken, und sein langes, braunes Haar und sein dunkler Bart waren voll Staub. Er sah müde aus. Er war in Khenj gewesen, einem fünfzehn Kilometer talabwärts gelegenen Dorf, um die Überlebenden eines Bombenangriffs zu behandeln. Jane reckte sich zu ihm empor, um ihn zu küssen. »Wie war es?« fragte sie auf französisch.
»Schlimm.« Er drückte sie behutsam und ging dann, um sich über
Weitere Kostenlose Bücher