Die Löwen
Sie ist ohne mich glücklich.
Er klappte das Tagebuch zu und legte es in den Koffer zurück. Dann kramte er ein billiges Schmuckschächtelchen vor. Es enthielt ein Paar kleine goldene Ohrringe, jeweils mit einer Perle in der Mitte. Die Frau, der sie zugedacht gewesen waren, ein schlitzäugiges Mädchen mit kleinen Brüsten, die ihn gelehrt hatte, dass nichts tabu ist, war gestorben -
getötet von einem betrunkenen Soldaten in einer Bar in Saigon – , bevor er ihr die Ohrringe hatte geben können. Geliebt hatte er sie nicht, aber er hatte sie doch gern gehabt und war ihr dankbar gewesen. Die Ohrringe hatten ein Abschiedsgeschenk sein sollen.
Er nahm eine einfache Karte und zog einen Kugelschreiber aus der Hemdtasche.
Ungefähr eine Minute lang überlegte er und schrieb dann: Für Petal - Ja, du kannst sie dir durchbohren lassen.
Liebe Grüße von Daddy.
6
DAS WASSER DES Fünf-LöwenFlusses war niemals warm, doch schien es jetzt etwas weniger kalt zu sein: in der milden Abendluft am Ende eines staubigen Tages, da die Frauen herunterkamen, um zu baden an ihrem eigenen, exklusiven Uferabschnitt. Jane Bissbiss die Zähne zusammen und watete mit den anderen in das Wasser, wobei sie Zentimeter um Zentimeter ihr Kleid hob, je tiefer das Wasser wurde, bis es ihr bis zur Hüfte reichte, dann begann sie sich zu waschen: Nach langer Übung beherrschte sie jetzt die besondere Fähigkeit der Afghanen, sich überall zu säubern, ohne sich auszuziehen.
Sie watete zurück zum Ufer, wo sie dann fröstelnd bei Zahara stand, die spritzend und planschend ihr Haar in einem Tümpel wusch und gleichzeitig temperamentvoll mit anderen schwatzte. Zahara tauchte ihren Kopf noch einmal ins Wasser und tastete dann nach einer Vertiefung im sandigen Boden, doch ihr Handtuch war nicht dort. »Wo ist mein Handtuch?« zeterte sie. »Ich hab’s in dieses Loch getan. Wer hat es gestohlen?«
Das Handtuch lag hinter Zahara. Jane hob es auf und sagte: »Hier ist es. Du hast es ins falsche Loch gesteckt.« »Das hat auch des Mullahs Frau gesagt!« rief Zahara, und die anderen kreischten vor Gelächter.
Inzwischen betrachteten die Frauen des Dorfes Jane als eine der ihren. Nach Chantals Geburt waren die letzten Reste von Reserviertheit und Misstrauen verschwunden. Ihre Mutterschaft galt wohl als der endgültige Beweis dafür, dass sie eine Frau war wie jede andere. Klatsch und Tratsch am Fluss ufer waren von erstaunlicher Offenheit - vielleicht weil die Kinder der Obhut von Großmüttern oder älteren Schwestern überlassen wurden, wahrscheinlicher jedoch Zaharas wegen. Ihre laute Stimme, ihre blitzenden Augen und ihr kehliges, hallendes Gelächter beherrschten die Szene. Zweifellos gab sie sich hier besonders extrovertiert, weil sie für den Rest des Tages ihr wahres Wesen unterdrücken musste . Sie besaß einen vulgären Sinn für Humor, wie Jane ihn bei anderen Afghanen, gleich ob Männer oder Frauen, noch nie gefunden hatte, und Zaharas anzügliche Bemerkungen und zweideutige Witze bildeten oft den Übergang zu ernsthaften Gesprächen. So konnte Jane die abendliche Badezeit oft zu einer Art Unterrichtsstunde in puncto Gesundheit umfunktionieren. Das beliebteste Thema war Geburtenkontrolle, wenngleich die Frauen von Banda weit mehr daran interessiert waren, wie sie eine Empfängnis erreichten, statt sie zu verhüten. Immerhin zeigten sie auch ein gewisses Interesse für die Idee, für die Jane sich einsetzte: Dass es besser war, wenn eine Frau nur alle zwei Jahre ein Kind bekam, statt alle zwölf oder fünfzehn Monate, weil sie ihren Nachwuchs dann besser nähren und pflegen könne. Gestern hatten sie über den Menstruationszyklus gesprochen, wobei sich herausgestellt hatte, dass die afghanischen Frauen glaubten, unmittelbar vor und unmittelbar nach der Periode sei der günstigste Zeitpunkt für eine Empfängnis. Jane hatte ihnen erklärt, die beste Zeit dafür sei der 12. bis 16. Tag, und die Frauen schienen es hinzunehmen, doch hegte Jane die wenig erbauliche Vermutung, dass die Frauen glaubten, sie irre sich, und nur zu höflich waren, es ihr zu sagen.
Heute schien die Luft vor Aufregung zu flimmern. Der jüngste Pakistankonvoi wurde zurückerwartet. Die Männer würden kleine Luxusdinge mitbringen - ein Kopftuch, ein paar Orangen, Plastikspangen -, vor allem jedoch die so überaus wichtigen Schusswaffen und Sprengkörper.
Zaharas Mann, Ahmed Gul, einer der Söhne der Hebamme Rabia, war der Anführer dieses Konvois, und Zahara
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