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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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war nicht zu überhören.
    »Ja, das ist er«, räumte Jean-Pierre ein.
    »Warum gibst du ihm dann das Zeug?« »Er hat ein Geschwür. Was soll ich sonst tun - ihn operieren?«
    »Du bist der Arzt.«
    Jean-Pierre begann seine Tasche zu packen. Am nächsten Morgen musste er in Cobak Ambulanz halten, etwa zehn Kilometer von Banda entfernt, jenseits der Berge -und unterwegs galt es, ein Treffen einzuhalten.
    Das Weinen des Fünfjährigen hatte einen Hauch Vergangenheit in die Höhle gebracht, ähnlich dem Geruch alten Spielzeugs. Jean-Pierre fühlte sich leicht verwirrt. Er sah Menschen aus seiner Kindheit, und ihre Gesichter überlagerten die wirklichen Dinge ringsum, wie Szenen aus einem Film, der von einem falsch eingestellten Projektor statt auf die Leinwand auf die Rücken der Zuschauer geworfen wird. Er sah seine erste Lehrerin mit ihrer Nickelbrille, Mademoiselle Medecin; Jacques Lafontaine, der ihm eine blutige Nase verpasst verpasst hatte, weil er ihn con schimpfte; seine Mutter, dünn, schlecht gekleidet, übernervös; und vor allem seinen Vater, einen großen, fleischigen, jähzornigen Mann.
    Mit Mühe konzentrierte er sich auf die Instrumente und Medikamente, die er vermutlich in Cobak brauchen würde. Er füllte eine Flasche mit einwandfreiem Trinkwasser. Nahrung würde er von den Dorfbewohnern dort erhalten.
    Schließlich trug er seine Taschen nach draußen und lud sie der störrischen alten Stute auf, die er für solche Reisen benutzte. Das Tier ging den ganzen Tag stur geradeaus und bog nur höchst widerwillig um eine Ecke, weshalb Jane es auf den Namen Maggie getauft hatte, nach der britischen Premierministerin Margaret Thatcher.
    Jean-Pierre war bereit. Er ging in die Höhle und küsste Janes weiche Lippen. Als er sich zum Gehen wandte, kam Fara mit Chantal herein. Das Baby weinte. Jane knöpfte ihr Hemd auf und gab Chantal sofort die Brust. Jean-Pierre streichelte die rosa Wange seiner Tochter und sagte: »Bon appetit.« Dann ging er hinaus.
    Er führte Maggie den Hang hinunter durch das verlassene Dorf und wandte sich, dem Lauf des Flusses folgend, nach Südwesten. Er ging schnell und ohne Rast, trotz der Hitze: Er war daran gewöhnt.
    Nun, da er den Arzt in ihm zu Hause gelassen hatte und an das bevorstehende Treffen dachte, empfand er eine gewisse Nervosität. Würde Anatoli zur Stelle sein? Vielleicht war er aufgehalten worden. Vielleicht war er sogar in Gefangenschaft geraten. Und wenn ja, hatte man ihn zum Sprechen gebracht? Hatte er, unter der Folter, Jean-Pierre verraten?
    Wartete womöglich schon eine Gruppe Guerillas auf Jean-Pierre, erbarmungslos und sadistisch und auf Rache versessen?
    Bei all ihrer Poesie und Frömmigkeit waren sie doch Barbaren, diese Afghanen. Ihr Nationalsport war buzkashi, ein gefährliches und blutiges Spiel: Ein totes Kalb ohne Kopf wurde in die Mitte eines Platzes gelegt; zwei berittene Mannschaften nahmen einander gegenüber Aufstellung, und auf einen Gewehrschussgewehrschuss hin preschten alle auf den Kadaver zu. Das Ziel bestand darin, das tote Tier aufzulesen, zu einem etwa anderthalb Kilometer entfernten und vorher festgelegten Wendepunkt zu bringen und dann wieder zurückzuschaffen, ohne dass man es s dass von einem der gegnerischen Spieler entreißen ließ. Würde das schauerliche Spielzeug zerfetzt, was oft genug vorkam, so war es Aufgabe des Schiedsrichters zu entscheiden, welche Mannschaft den größten Teil ergattert hatte.
     
    Im vorigen Winter hatte Jean-Pierre ein solches Spiel gesehen. Das war kurz vor der Stadt Rokha, ein Stück das Tal hinab, und das Spiel war bereits in vollem Gange. Jean-Pierre hatte ein paar Minuten zugesehen, bevor ihm klar geworden war, dass sie nicht ein Kalb benutzten, sondern einen Mann - einen Mann, der noch lebte. Entsetzt hatte er versucht, dem Spiel ein Ende zu machen, doch irgendwer sagte ihm, der Mann sei ein russischer Offizier – als ob das alles erklärte. Die Spieler ignorierten Jean-Pierre einfach, und er sah keine Möglichkeit, fünfzig Reiter an dem grausamen Spiel zu hindern, auf das sie so wild waren. Er war nicht stehen geblieben stehen-geblieben , um mit anzusehen , wie der Mann starb, aber vielleicht war das verkehrt gewesen, weil er sich später ausgemalt hatte, wie der Russe bei lebendigem Leibe in Stücke gerissen worden war, und diese Vorstellung kehrte regelmäßig wieder, sobald er befürchtete, entlarvt zu werden. : Viele Erinnerungsbilder begleiteten ihn, während er eine Schlucht mit

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