Die Löwen
trotzdem gab es Hoffnung für die Armen, die Machtlosen und die Unterdrückten, denn in Moskau regiere das Volk, und überall auf der Welt blicke die Arbeiterklasse zur Sowjetunion, weil sie von dort im Kampf um die Freiheit Hilfe, Ermutigung und Führung erwarte.
Als Jean-Pierre älter wurde, entdeckte er auf dem glanzvollen Bild so manche Flecken: Er erkannte, dass die Sowjetunion keineswegs ein Arbeiterparadies war; doch nichts konnte seine Überzeugung ins Wanken bringen, dass die kommunistische Bewegung, geführt von Moskau, die einzige Hoffnung war für die Unterdrückten dieser Welt und das einzige Mittel, jene Richter und Polizisten und Zeitungen zu vernichten, die mit seinem Vater so brutal verfahren waren.
Dem Vater war es gelungen, die Fackel an den Sohn weiterzugeben. Und als sei ihm dies bewusst bewusst , begann Papa sich gleichsam in sich selbst zurückzuziehen. Die gesunde rötliche Farbe kehrte nie wieder in seine Wangen zurück. Er ging nicht mehr zu Demonstrationen, organisierte keine Tanzveranstaltungen mehr (um für die Partei Geld zu beschaffen) und schrieb auch keine Briefe mehr an Lokalblätter. Er versah Bürodienste in einer Reihe von untergeordneten Funktionen. Natürlich war er Parteimitglied, gehörte auch einer Gewerkschaft an, doch an Posten wie dem des Vorsitzenden eines Komitees oder ähnlichem war er nicht mehr interessiert. Er spielte noch immer Schach und trank Anisette mit dem Priester, dem Schuster und dem Postmeister; doch ihre politischen Diskussionen, die sie einst mit so viel Leidenschaft geführt hatten, waren jetzt so lahm, als sei die Revolution, für die sie so hart gearbeitet hatten, auf unbestimmte Zeit vertagt worden. Wenige Jahre später starb Papa. Und erst jetzt entdeckte Jean-Pierre, dass er sich im Gefängnis die Tuberkulose zugezogen hatte, von der er sich dann nicht mehr erholte. Sie hatten ihm die Freiheit geraubt, seinen Lebensmut gebrochen und seine Gesundheit ruiniert. Doch das Schlimmste, das sie ihm angetan hatten, war, ihn als Verräter zu brandmarken. Er war ein Held gewesen, der sein Leben für seine Mitmenschen eingesetzt hatte, doch gestorben war er als ein wegen Verrats Verurteilter.
Jetzt würden sie es bedauern, Papa, wenn sie wüssten , auf welche Weise ich Rache nehme, dachte Jean-Pierre, während er die knochendürre Stute einen Hang hinaufführte.
Aufgrund der Informationen, die ich geliefert habe, konnten die Kommunisten hier Masuds Nachschublinien so wirksam abwürgen, dass er im letzten Winter kein Vorratslager an Waffen und Munition anlegen konnte. Und statt in diesem Sommer Angriffe gegen den Luftstützpunkt, die Kraftwerke und die Versorgungslaster auf der Landstraße durchzuführen, hat er nun alle Mühe, sich gegen die Angriffe der Regierung auf sein Territorium zu verteidigen. Auf eigene Faust, Papa, habe ich fast völlig die Gefährlichkeit dieses Barbaren beseitigt, der dieses Land zurückführen will in die düsteren Zeiten der Unzivilisiertheit, der Unterentwicklung und des islamischen Aberglaubens.
Natürlich genügte es nicht, Masuds Nachschublinien lahmzulegen . Der Mann war längst eine nationale Größe. Darüber hinaus besaß er genug Verstand und Charakterstärke, sich vom Rebellenführer zum legitimen Präsidenten aufzuschwingen. Er war ein Tito, ein de Gaulle, ein Mugabe. Es genügte nicht, ihn zu neutralisieren, man musste ihn vernichten – dafür sorgen, dass er den Russen in die Hände fiel, tot oder lebendig.
Die Schwierigkeit bestand darin, dass Masud sich schnell und lautlos bewegte, ähnlich dem Hirsch im Wald plötzlich auftauchte und ebenso plötzlich wieder verschwand. Doch Jean-Pierre war geduldig, und geduldig waren auch die Russen. Der Tag würde kommen, früher oder später, da Jean-Pierre hundertprozentig wusste , an welchem Ort Masud sich in den nächsten vierundzwanzig Stunden aufhielt – vielleicht, weil er verwundet war oder weil er einem Begräbnis beiwohnen wollte -, und dann würde Jean-Pierre die Nachricht mithilfe seines kleinen Senders in einem Sonder-Code weitergeben, und der Falke würde zustoßen.
Am liebsten hätte er Jane erzählt, was seine eigentliche Aufgabe hier war. Vielleicht konnte er sie sogar davon überzeugen, dass er recht hatte. Denn im Grunde war doch jede ärztliche Hilfe sinnlos; den Rebellen zu helfen, hatte lediglich zur Folge, das Elend, die Armut und die Unwissenheit, in der diese Menschen lebten, zu verlängern und den Zeitpunkt, da die Sowjetunion dieses Land
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