Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
Es war ein koboldhaftes Gesicht mit großen Augen, Stupsnase und breitem Mund, der meistens lächelte. Jetzt trug ihr Gesicht einen ernsten Ausdruck, und sie schob die Unterkiefer hin und her, als knirsche sie mit den Zähnen - ein Zeichen, dass sie sich konzentrierte. Jean-Pierre kannte jede ihrer Mienen – und keinen einzigen ihrer Gedanken.
    Er spekulierte oft - fast unausgesetzt sogar -, was sie denken mochte, doch er scheute davor zurück, sie zu fragen, denn solche Gespräche konnten leicht in verbotenes Territorium abgleiten. Er musste ständig auf der Hut sein, ähnlich wie ein ungetreuer Ehemann, damit er sich nicht durch ein unbedachtes Wort – oder auch nur durch einen unkontrollierten Gesichtsausdruck - verriet. Jedes Gespräch über Wahrheit und Unaufrichtigkeit, über Vertrauen und Verrat, über Freiheit und Tyrannei war tabu; und tabu waren auch alle Themen, die zu den anderen führen konnten, wie zum Beispiel Liebe, Krieg und Politik. Selbst wenn sie über völlig harmlose Dinge sprachen, verhielt er sich vorsichtig. Als Folge davon gab es in ihrer Ehe einen eigentümlichen Mangel an Intimität. Und der Liebesakt war irgendwie absonderlich. Er hatte entdeckt, dass er zu keinem Höhepunkt kommen konnte, wenn er nicht die Augen schloss und sich in der Fantasi e an einen anderen Ort versetzte. Es war eine Erleichterung für ihn, dass er Chantals Geburt wegen in den letzten Wochen seiner › ehelichen Pflichten ‹ enthoben gewesen war. »Ich bin soweit«, sagte Jane und lächelte ihn an. Er nahm den Arm des Kindes und fragte: »Wie alt bist du?«
    »Fünf.«
    Während der Junge sprach, stach Jean-Pierre die Nadel hinein. Das Kind begann sofort loszuheulen. Unwillkürlich erinnerte sich Jean-Pierre, wie er, im selben Alter wie dieser Junge, von seinem ersten Fahrrad gefallen war und genauso geweint hatte: lautes Protestgeheule über unerwartete Schmerzen. Er betrachtete das verzerrte Gesicht seines fünfjährigen Patienten, entsann sich, wie ungeheuer weh es getan hatte und wie wütend er gewesen war; und unwillkürlich dachte er: Wie bin ich von dort nach hier gekommen?
    Er ließ den Jungen los, der sofort zu seiner Mutter lief. Dann zählte Jean-Pierre dreißig Kapseln Griseofulvin ab und gab sie der Frau. »Sorge dafür, dass er jeden Tag eine nimmt, bis sie alle sind«, sagte er. »Gib sie aber niemandem sonst - sie reichen gerade für ihn.« Das war für den Grind. Die Blasenwürmer und die Gastroenteritis würden ihren eigenen Verlauf nehmen. » Lass lass ihn im Bett, bis die Flecken verschwinden, und sorge dafür, dass er viel trinkt.«
    Die Frau nickte.
    »Hat er Geschwister?« fragte Jean-Pierre. »Fünf Brüder und zwei Schwestern«, sagte die Frau stolz.
    »Er sollte allein schlafen, sonst werden sie auch krank.« Die Frau sah ihn unsicher an: Wahrscheinlich hatte sie nur ein einziges Bett für alle Kinder. Und daran konnte Jean-Pierre nichts ändern. Er fuhr fort: »Wenn die Tabletten alle sind und es geht ihm nicht besser, bring ihn wieder zu mir.« Was das Kind eigentlich brauchte, war etwas, das weder Jean-Pierre noch die Mutter dem Jungen geben konnten - reichlich gute Nahrung von hohem Nährwert.
    Die beiden verließen die Höhle, das magere, kranke Kind und die dürre, erschöpfte Mutter. Wahrscheinlich hatten sie mehrere Kilometer bis hierher zurückgelegt, und sicher hatte die Frau den Jungen den größten Teil der Strecke getragen; jetzt mussten sie sehen, wie sie den Heimweg schafften. Der Junge würde vielleicht trotzdem sterben.
    Jedoch nicht an Tuberkulose.
    Da war noch ein Patient: der malang. Er war Bandas heiliger Mann. Halb verrückt und oft mehr als halb nackthalb nackt , durchstreifte er das Fünfl Fünf-Löwen-Tal Comar, rund vierzig Kilometer von Banda stromaufwärts, bis nach Charikar in der von den Russen kontrollierten Ebene, rund hundert Kilometer in südwestlicher Richtung. Er gab nur unverständliches Zeug von sich und hatte Visionen. Die Afghanen hielten Malangs für Menschen mit Glück und tolerierten nicht nur ihr Verhalten, sondern gaben ihnen auch Speise und Trank und Gewänder.
    Er trat ein, ein paar Lumpen um die Lenden und eine russische Offiziersmütze auf dem Kopf. Er hielt sich den Bauch und mimte Schmerzen. Jean-Pierre gab ihm eine Handvoll Diacetylmorphin-Tabletten. Der Verrückte rannte davon, in der Faust seine Pillen mit synthetischem Heroin.
    »Er muss inzwischen doch süchtig sein«, sagte Jane, und die Missbilligung Missbilligung in ihrer Stimme

Weitere Kostenlose Bücher