Die Löwen
Wohnzimmer.
Mohammed stand da und wartete. Jean-Pierre sagte: »Du weißt ja, wo sie sind.«
Mohammed nickte und öffnete eine bemalte Holztruhe. Er nahm einen dicken Packen gefalteter Landkarten heraus und wählte einige aus, die er dann auf dem Fußboden ausbreitete. Jean-Pierre wiegte Chantal in den Armen und schaute Mohammed über die Schulter. »Wo fand der Angriff statt?« fragte er.
Mohammed deutete auf eine Stelle unweit der Stadt Jalalabad.
Die Fährten, denen Mohammeds Konvois folgten, fanden sich weder auf dieser noch auf irgendeiner anderen Karte. Immerhin enthielten Jean-Pierres Landkarten manche Täler, Plateaus und – je nach Jahreszeit – Wasser führende oder trockene Fluss betten, wo sich Fährten befinden mochten. Manchmal wusste Mohammed aus dem Gedächtnis, was es dort gab. Manchmal musste er Vermutungen anstellen. Dann diskutierte er mit Jean-Pierre über die Bedeutung von Höhenlinien oder weniger eindeutigen Markierungen für Geländeformationen, wie zum Beispiel Moränen.
Jean-Pierre meinte: »Du könntest weiter nach Norden ausweichen, im Bogen um Jalalabad.« Oberhalb der Ebene, auf der die Stadt lag, gab es ein Gewirr von Tälern, die sich wie Spinnweben zwischen zwei Flüssen erstreckten: dem Konar und dem Nuristan.
Mohammed steckte sich eine neue Zigarette an - er war, wie die meisten Guerillas, starker Raucher - und schüttelte, während er den Rauch von sich blies, den Kopf. »Dort hat es zu viele Hinterhaltsangriffe gegeben«, sagte er. »Dort müssen wir wieder Verrat befürchten. Nein, der nächste Konvoi wird südlich an Jalalabad vorbeiziehen.«
Jean-Pierre runzelte die Stirn. »Ich sehe nicht, wie sich das bewerkstelligen ließe. Im Süden gibt es vom Khaiber-Paß an nichts als offenes Gelände. Ihr würdet entdeckt.«
»Wir werden den Khaiber-Paß nicht benutzen«, sagte Mohammed. Mit dem Zeigefinger auf der Landkarte zog er die afghanisch-pakistanische Grenze nach Süden hin nach. »Wir werden die Grenze bei Teremengal überqueren.« Sein Finger stoppte bei der Stadt, die er genannt hatte, und zog von dort eine Route zum Fünf-Löwen-Tal .
Jean-Pierre nickte. Von seiner Freude ließ er sich nichts anmerken. »Das leuchtet mir ein.
Wann wird der Konvoi aufbrechen?«
Mohammed faltete die Karten zusammen. »Übermorgen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Er legte die Landkarten wieder in die bemalte Truhe, ging dann zur Tür.
Im selben Augenblick trat Jane ein. Eher zerstreut sagte er »Gute Nacht« zu ihr. Jean-Pierre war froh, dass der gut aussehende Guerilla seit Janes Schwangerschaft nicht mehr auf sie scharf zu sein schien. Nach Jean-Pierres Ansicht war sie zweifellos oversexed und durchaus bereit, sich verführen zu lassen; und eine Affäre zwischen ihr und einem Afghanen hätte endlose Schwierigkeiten bereitet.
Jean-Pierres Arzttasche stand noch auf dem Boden, und Jane bückte sich, um sie aufzuheben. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Rasch nahm er ihr die Tasche ab. Sie musterte ihn ein wenig überrascht. »Ich tu sie schon weg«, sagte er. »Schau du nach Chantal. Sie muss gestillt werden.« Er reichte ihr das Baby.
Mit der Tasche und einer Lampe ging er in den vorderen Raum, während Jane sich niederließ, um Chantal zu stillen. Auf dem Erdboden stapelten sich Kartons mit medizinischen Mitteln. Bereits geöffnete Kartons standen in den Holzregalen des Krämers. Jean-Pierre stellte seine Tasche auf den blau gekachelten Ladentisch und nahm einen schwarzen Plastikgegenstand heraus, der etwa die Größe und Form eines tragbaren Telefons besaß. Er steckte ihn in die Hosentasche.
Er leerte seine Arzttasche; Instrumente, die sterilisiert werden muss ten , legte er beiseite, alles Unbenutzte kam in die Regalfächer.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Ich gehe zum Baden an den Fluss hinunter«, sagte er zu Jane. »Ich bin zu schmutzig, um zu Bett zu gehen.«
Sie betrachtete ihn mit jenem verträumten, zufriedenen Lächeln, das sich so oft auf ihrem Gesicht zeigte, wenn sie das Baby stillte. »Beeil dich«, sagte sie, als er hinausging.
Das Dorf schlief, endlich. Zwar brannte hier und dort noch eine Lampe, und aus einem Fenster hörte er die Stimme einer Frau, die bitterlich weinte; doch in den meisten Häusern war es still und dunkel. Als er am letzten Haus des Dorfes vorbeikam, vernahm er wieder die Stimme einer Frau, einen Trauergesang, ein Lied der Klage; und einen Augenblick lang schien ihn die Last der vielen Tode, die er verschuldet hatte, beinahe
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