Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
hinwollten, nicht wahr, Commissaria?»
Einen Moment lang verschlug es Laura die Sprache. Sie wusste erst nicht, was sie machen sollte, wagte dann aber eine Art Bekenntnis. «Ich habe etwas gehört, von einer Geschichte, die nur von den Cabun-Frauen weitergegeben wird. Das hat mich natürlich neugierig gemacht, und ich frage mich, ob diese Geschichte etwas mit Valerias Tod zu tun haben könnte.»
«Nur dann, wenn sie den Kampf aufgenommen hat …»
«Welchen Kampf, Signora?»
«Den Kampf um ihre Würde, Commissaria. Wir Frauen der Cabuns sind sehr stolz. Das auf dem Foto ist Claretta Cabun. Sie war eine Nichte meiner Großmutter und eine berühmte Schönheit in den Cinque Terre … vor 150 Jahren. Aber sie wies alle Bewerber ab. Ein junger Mann aus Corniglia war so verrückt nach ihr, dass er sie vergewaltigte. Er dachte, dass sie ihn dann heiraten müsse … Aber sie warf ihn über die Klippen, Commissaria. Niemand konnte ihr das nachweisen. Danach ging sie weg und heiratete einen venezianischen Kaufmann. Erst zum Sterben ist sie nach Hause zurückgekommen. Sie liegt auf dem Friedhof von Riomaggiore. Valeria wurde heute neben ihr begraben.»
Wieder trank die alte Frau ein paar Schlucke Wasser, sah dann Laura fest an. «Wahrscheinlich hat der Priester ihnen davon erzählt. Er hat etwas gegen diese Geschichte, weil er sie nicht kennt und, würde er sie kennen, sicher nicht billigte. Wir Cabun-Frauen geben sie unseren Mädchen weiter. Claretta ist für uns ein Vorbild, und alle Männer wissen das. Keiner hier würde wagen, einer Cabun Gewalt anzutun. Manchmal ist es ganz gut, wenn die anderen einen für eine Hexe halten!» Sie lachte plötzlich, verstummte aber im nächsten Augenblick, krümmte sich zusammen. Laura eilte zu ihr, kniete neben ihr nieder und hielt sie fest.
«Es geht schon wieder, Commissaria», keuchte Maria Valeria. «Wenn Sie dort in der Schublade nachsehen wollten. Da liegt eine kleine Flasche, ein Spray. Das hat der Arzt dagelassen … falls ich Schwierigkeiten mit der Luft habe …»
Laura fand das Spray, und kurz darauf atmete Maria Valeria wieder leichter.
«Es ist gut, dass Sie da sind, Commissaria. Finden Sie den Mörder von Valeria. Ich verspreche Ihnen, dass ich nicht sterbe, ehe er gefunden ist!»
Laura musste lächeln, hielt die Hand der alten Frau fest in ihrer eigenen.
«Ich will es versuchen, Signora. Und ich bin sicher, dass ich ihn finde, aber ich habe noch eine wichtige Frage. Halten Sie es für möglich, dass eine Ihrer Cabun-Löwinnen Valerias Tod rächen wollte?»
Die alte Frau erstarrte. «Das können Sie mich nicht fragen, Commissaria. Keine Cabun würde jemals eine andere verraten. Selbst wenn ich es wüsste, würde ich Ihnen keine Antwort geben. Die Cabun-Frauen wussten, dass Claretta ihren Vergewaltiger von den Klippen gestoßen hatte – die Polizei hat niemals etwas davon erfahren. Jetzt, nach 150 Jahren, macht das nichts mehr aus.»
«Ich danke Ihnen, Signora. Ich werde trotzdem Ihre Geschichte bewahren.»
Maria Valeria schloss die Augen. «Suchen Sie ihn, Commissaria! Suchen Sie ihn schnell. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Es ist das Letzte, das ich noch wissen will in diesem Leben.»
Guerrini lag nicht mehr auf den Klippen, als Laura nach einer Stunde zurückkehrte. Sie ging zum Hafen hinunter, entdeckte ihn weit draußen auf den riesigen Felsblöcken, die als Schutzwall gegen das Meer aufgeschichtet worden waren. Schnell folgte sie dem Weg, der vom Hafen zum Schiffsanleger führte, stieg die steile Treppe zum Wellenbrecher hinab, winkte, doch er schaute nicht herüber. Guerrini schien völlig vertieft in das Schauspiel der sich aufbäumenden Fontänen, die sich immer wieder hoch über ihn erhoben und prasselnd auf die Felsen niederfielen.
Auf halbem Weg zu ihm gab Laura auf. Es war mühsam, über die Brocken zu klettern und zu springen. Sie versuchte es mit Rufen. Lange Zeit schien ihre Stimme ihn nicht zu erreichen. Das Donnern der Meereswogen deckte alle anderen Laute zu. Als zwischen zwei Wellen eine unerwartete Stille eintrat, eine Art Aufatmen, nahm sie all ihre Kraft zusammen und rief seinen Namen.
Diesmal hörte er sie, wandte sich um und lachte zu ihr herüber, machte sich auf den Rückweg, stützte sich mit den Händen ab, verschwand hin und wieder zwischen gigantischen Steinblöcken.
Im Schneidersitz saß Laura auf einem flachen Fels, sah Angelo auf sich zukommen, atmete tief die salzige Luft ein und hatte – wie so oft in ihrem Leben
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