Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
daran denke.»
Wich die alte Frau dem Thema Frauen aus, oder war sie nur zufällig auf den Verfall der Tradition gekommen?
«Ist es wirklich wahr, dass die Frauen Steine geschleppt haben, um die Oliven- und Weinfelder an der Steilküste anzulegen?»
«Natürlich haben sie Steine geschleppt – ich selbst habe es getan, als ich noch jung war. Und ich war stolz darauf. Man kann nicht stolz auf etwas sein, das keine Mühe macht, Signora. Heute geht alles viel zu leicht, die Menschen langweilen sich und verlieren ihren Stolz. So ist es, ich beobachte es schon seit langer Zeit!»
«Wollten Sie nie von hier fort, Signora Cabun?»
«Nein, niemals! Sehen Sie, ich … ich fühle mich, als wäre ich aus diesem Boden gewachsen. Ich kann es nicht gut beschreiben, aber wenn ich sterbe, dann werde ich sicher wieder ein Teil von diesem Land. So, wie sie früher Steine zerrieben haben, um den Boden fruchtbarer zu machen, genau so!» Sie hielt ihr Gesicht dem Wind entgegen.
«Haben Sie versucht, dieses Gefühl Ihrer Enkelin weiterzugeben? Manchmal ist es ja mit Enkeln leichter als mit den eigenen Kindern.» Laura bemühte sich, den Wegen zu folgen, die von der alten Frau vorgegeben wurden.
«Valeria war eine echte Cabun», flüsterte Maria Valeria. «Sie war vielleicht nicht ganz so stark wie ich in meiner Jugend – aber sie war stark. Ich habe ihr alles mitgegeben, was ich ihr geben konnte. Sie hat es genommen und ist fortgegangen.» Plötzlich stand sie auf und ging zur Küchentür. «Ich muss etwas trinken! Der Arzt sagt mir ständig, dass ich mehr trinken soll. Möchten Sie auch etwas?»
«Ein Glas Wasser, wenn es keine Mühe macht, Signora Cabun.» Laura folgte ihr ins Haus, betrachtete unauffällig die Bilder an der Wand gegenüber dem Herd. Ein Foto von Valeria hing dort, ernste Augen, ein kaum wahrnehmbares Lächeln um die Lippen. Daneben ein verblichenes Bild, bräunliche Farben, ebenfalls eine junge Frau mit auffallend dichtem Haar und diesem halb erschrockenen starren Blick, den die meisten Menschen auf alten Fotografien zeigten. Über den Bildern der beiden jungen Frauen hing ein drittes in einem ovalen Goldrahmen. Eine schwarze Madonna.
«Bei uns gibt es auch schwarze Madonnen. Ich habe nie herausgefunden, woher sie eigentlich stammen.» Laura vermied es, auf Valeria und die Unbekannte einzugehen.
«Das ist die Madonna von Reggio. Sie war immer schon schwarz. Niemand weiß, warum, wahrscheinlich kommt sie aus Afrika. Früher bin ich regelmäßig zu ihr hinaufgegangen. Ihr Heiligtum liegt in den Bergen oberhalb von Vernazza. Manchmal hingen die Wolken über der Kirche. Ich schaute hinunter auf das Dorf und die Küste wie durch einen Schleier. Unten schien die Sonne – es sah aus wie ein Wunder.»
Maria Valeria reichte Laura ein Glas Wasser. Ihr Gesicht drückte eine so zärtliche Sehnsucht aus, dass Laura tief berührt war.
«Das letzte Mal war ich dort oben mit Valeria und ihrer Cousine Nella. Valeria hat etwas ganz Seltsames gesagt: Das Meer hat die Madonna von Afrika hergetragen und hier oben abgesetzt. Die Madonna sollte uns zeigen, dass es auf der anderen Seite des Wassers auch Menschen gibt. Valeria liebte die schwarze Madonna genau wie ich.»
«Der afrikanische Freund Ihrer Enkelin sagte mir, dass Valeria mit ihm nach Afrika gehen wollte, um den Menschen dort zu helfen. Er selbst ist kurz davor, ein Arzt zu werden.»
Die alte Frau sank auf einen Stuhl, legte wieder eine Hand über ihr Herz, verzog schmerzhaft das Gesicht.
«Es geht Ihnen nicht gut, Signora. Soll ich besser gehen, damit Sie sich ausruhen können?»
Maria Valeria schüttelte den Kopf. «Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich habe diese Anfälle jeden Tag ein paarmal, und seit Valeria nicht mehr lebt, sind sie noch häufiger geworden … Es passt zu Valeria, dass sie nach Afrika gehen wollte … auch wenn es mir wehtut. Sie wollte keinen einfachen Weg, suchte etwas, das einen Sinn ergab. Ich bin sicher, dass sie irgendwann hierher zurückgekommen wäre. Zur Madonna von Reggio und zu unserer Erde.» Sie hustete, trank einen Schluck Wasser. Laura sah, dass kleine Schweißtropfen auf ihrer Stirn und Oberlippe standen.
«Das ist ein schönes Foto Ihrer Enkelin», sagte Laura nach einer Weile. «Wer ist denn die andere Frau? Ihre Mutter, Signora?»
Maria Valeria hielt jetzt die Hände im Schoß gefaltet, saß ganz ruhig und betrachtete Laura mit einem beinahe amüsierten Gesichtsausdruck.
«Jetzt sind Sie endlich da, wo Sie
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