Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
Niemand beobachtete sie. Das einzige Lebenszeichen kam von einem Kanarienvogel, der seltsam gebrochen vor sich hin zwitscherte. Sein Käfig hing im dritten Stock vor einem Fenster.
Als Maria Valerias Tür sich öffnete, schreckte Laura zusammen und drehte sich schnell um. Sie war schon zwei Schritte gegangen, hatte nicht mehr mit einer Antwort gerechnet.
Lange standen sie sich wortlos gegenüber. Laura hatte das Gefühl, als würde sie von den Augen der alten Frau durchdrungen, widerstand nur mühsam dem Impuls, den eigenen Blick abzuwenden. Sie hielt es für möglich, dass Maria Valeria die Tür wieder schließen würde. Doch nach schier endloser Zeit sagte sie: «Lei e la commissaria tedescha. Die deutsche Kommissarin, nicht wahr? Warum kommen Sie zu mir? Die anderen sind oben im Ristorante.»
«Ich will nicht zu den anderen, Signora. Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.»
Wieder sah die alte Frau Laura lange an, nickte dann und öffnete die Tür so weit, dass sie eintreten konnte. «Es ist gut, dass Sie kommen. Sie müssen mir von Valeria erzählen. Die andern sagen ja nichts, verstehen auch nichts. Sie hat den Kampf verloren, nicht wahr? Ich habe letzte Nacht davon geträumt, dass sie den Kampf verloren hat.»
Laura senkte den Kopf, nickte halb, obwohl sie nicht wusste, welchen Kampf die alte Frau meinte. Maria Valeria führte sie durch ihre kleine Wohnstube in die Küche und hinaus in den winzigen Garten über dem Meer. Dort ließ sie sich auf die Bank fallen, wies neben sich und legte eine Hand über ihre Augen. Laura setzte sich behutsam, nahm halb bewusst den dumpfen Schlag einer großen Welle wahr, die gegen die Klippen donnerte.
«Vielleicht wundern Sie sich, dass ich weiß, wer Sie sind, Signora Commissaria. Hier wissen es alle. So ein Dorf ist klein, und wenn einer etwas weiß, dann wissen es meistens auch alle andern. Aber das ist nicht wichtig! Erzählen Sie mir von meiner Enkelin. Wie hat sie gelebt in dieser fremden Stadt, was hat sie gemacht?» Sie atmete schwer, legte die Hand auf ihr Herz und lehnte sich zurück.
Laura begann mit der Sprachenschule und wie schnell Valeria offensichtlich Deutsch gelernt hatte, wie beliebt sie gewesen war, kam dann zu den beiden kleinen Jungs der Denners, die Valeria liebten, deutete an, dass die Familie nicht ganz einfach gewesen war.
«Sie müssen mich nicht schonen», fiel Maria Valeria ihr ins Wort. «Sagen Sie schon, dass es kalte unsympathische Menschen waren. Die gibt es nicht nur in Deutschland. Wir haben auch einige davon!»
«Ja, es waren kalte unsympathische Menschen. Aber Valeria hat eine große Liebe gefunden. Einen Mann, der sehr traurig ist und der sie seine Löwin nannte.»
Maria Valeria schloss die Augen, rang nach Luft. «Das war der Schwarze, nicht wahr? Ich habe meinen Sohn darüber reden hören. Hat er sie umgebracht?»
«Ich weiß es nicht, Signora Cabun. Ich hoffe es nicht … Manchmal führt die Liebe zu schrecklichen Dingen, das wissen Sie sicher …»
Die alte Frau nickte, zog ihr schwarzes Wolltuch eng um die Schultern, denn der Wind war kühl. Eine Weile saßen die beiden Frauen schweigend nebeneinander. Laura dachte, dass es keinen Sinn habe, Valerias Großmutter zu drängen oder direkt nach der Familienlegende zu fragen. Es musste sich von selbst ergeben.
«Ich habe eine Tochter, die Ihrer Enkelin ein wenig ähnelt», sagte Laura endlich. «Sie heißt Sofia und wird bald dreizehn. Als ich Valeria liegen sah, hatte ich plötzlich Angst um meine Tochter. Seltsam, nicht wahr? Ich bin nach Hause gefahren und habe nachgesehen, ob sie in ihrem Bett ist und schläft.»
«Das ist nicht seltsam», erwiderte Maria Valeria langsam. «So sollte es sein zwischen uns Frauen. Wir sollten aufeinander aufpassen, uns Kraft geben!»
Wieder schwiegen sie.
«Ich habe gehört, dass die Frauen in den Cinque Terre besonders viel Kraft haben und sehr stolz sind.»
«Ja, so war es lange Zeit. Alles, was Sie hier sehen, Commissaria, die Dörfer, die Felder, die Mauern, die Wege … alles haben Frauen und Männer gebaut. Zusammen, Signora, in achthundert Jahren. Das sollte niemand vergessen. Es ist so ein Jammer, dass alle nur noch das Geld der Touristen wollen und dass so viele Junge weggehen. Sehen Sie, Signora, niemand will sich mehr um die muretti kümmern. Es ist ihnen zu mühsam. Jetzt kommen freiwillige Helfer aus dem Norden, um unsere Trockenmauern wieder aufzubauen. Es ist eine Schande, Signora. Mir bricht das Herz, wenn ich
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