Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
pünktlich im Dezernat sein. Warum war ihr das eigentlich wichtig? Vielleicht, um diese traurige Lähmung zu überwinden, die sich in der roten Wohnhöhle in ihr ausgebreitet hatte. Hatte sie einen leidenschaftlichen Geliebten erwartet? Einen, der für Ülivia sein Leben riskieren würde? Irgendwie wäre ihr so einer lieber gewesen als dieser gescheite, distanzierte junge Mann.
«Sentimentale Kuh», sagte sie leise zu sich selbst, während sie ihre Wagentür aufsperrte. Der türkische Händler schwenkte wieder seine Sardinenkiste. Sie winkte ihm zu, obwohl diesmal auch sein bunter Gemüseladen sie nicht mit der türkischen Tragödie versöhnen konnte.
NOCH IMMER war es zu kalt an der ligurischen Küste. Der Wind wollte nicht aufhören, dieser kalte Wind, der von Süden auf Westen gedreht hatte. Pfeilschnell trieb er die Möwen über den Himmel, presste riesige Wogen in die Buchten und gegen die Klippen. Tag und Nacht donnerte das Meer gegen die Klippen, und der alten Maria Valeria Cabun kam es vor, als greife das Wasser das Land an. Es flößte ihr eine merkwürdige Furcht ein, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Sie war so vertraut mit dem Meer, mit seinem Schmeicheln und mit seinen Drohungen, wusste, wann man beten musste und wann es gut war, die Füße ins Wasser zu strecken.
Seit dem Tod ihrer Enkelin war alles anders geworden. Maria Valeria fürchtete sich, weil sie spürte, dass das Licht ausgegangen war, das bisher in ihrem Herzen gebrannt hatte. Ein Licht, das alle Frauen der Cabuns in sich trugen, sobald sie die Geschichte von Claretta erfuhren. Maria Valeria erhob sich mühsam von ihrem Platz am Fenster der kleinen Küche, ging zu dem verblichenen Foto an der Wand, berührte es wie eine Reliquie.
Clarettas Geschichte war von Generation zu Generation weitergegeben worden. Maria Valeria hatte sie von ihrer Großmutter gehört, und sie selbst erzählte sie ihrer Enkelin Valeria.
Der Pfarrer mochte die Geschichte nicht, obwohl er sie nur gerüchteweise kannte. Einmal hatte er Maria Valeria nach der Messe zur Seite genommen und erklärt, dass es gut sei, den Jungen die Geschichten der Bibel zu erzählen, dass es aber Geschichten gebe, die nichts mit Gott und dem Glauben zu tun hätten. Heiden und Wilde würden solche Geschichten erzählen, und es wäre besser, wenn Maria Valeria Buße tun würde. Er sei bereit, ihr die Beichte abzunehmen.
Aber Maria Valeria hatte ihr eigenes Abkommen mit dem Herrn getroffen. Sie ging sowieso am liebsten in die Kirche, wenn sie allein mit Gott und Johannes dem Täufer sein konnte, hatte nie viel auf das Gerede der Priester gegeben. Das behielt sie zwar für sich, besuchte auch regelmäßig die Gottesdienste – des dörflichen Friedens willen –, aber genau wie ihr verstorbener Mann war sie Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens und noch immer stolz darauf. Früher gehörten viele Bewohner der Cinque Terre der PCI an, früher, als es noch um etwas ging im Leben. Heute wollten sie alle nur noch Geld verdienen … Verächtlich verzog die alte Frau ihr Gesicht.
Wieder zeichnete sie mit ihrem Finger die Umrisse der Claretta Cabun nach, krümmte sich beim Gedanken an ihre Enkelin vor Schmerz zusammen, fürchtete, ohnmächtig zu werden. Als sie wieder durchatmen konnte, trank sie einen Schluck Wasser, fragte den heiligen Johannes, wie sie weiterleben solle nach diesem Verlust. Als er nicht antwortete, erklärte sie ihm, dass Menschen nicht immer selbst die Antwort finden könnten, dass die Götter ihnen manchmal Hinweise geben müssten, eine Hand reichen … Erschöpft hielt sie inne. Lauschte. Aber da war nur das unablässige Donnern des Meeres.
Und plötzlich wusste sie, was sie tun musste. Entschlossen legte sie das dicke schwarze Wolltuch um ihre Schultern, wickelte sich ein wie in einen Kokon. Valeria hatte ihr dieses Tuch zu Weihnachten geschenkt. Es war warm und weich, an den Rändern mit blauen Sternen verziert. Sie steckte ein kleines Messer in die Tasche ihres langen dunkelblauen Rocks und machte sich auf den Weg, nahm nicht die Hauptstraße durchs Dorf, sondern wählte die steilen Treppen durch die Gemüsegärten und Weinfelder.
Es war noch früh am Morgen, und außer einigen Bauarbeitern und zwei schläfrigen Katzen begegnete ihr niemand. Maria Valeria kam nur sehr langsam voran, musste immer wieder stehen bleiben, um Luft zu schöpfen. Obwohl die Sonne schien, war es sehr kühl. Tautropfen funkelten auf den Blüten der Anemonen und winzigen Cyclamen,
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