Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
die aus den Mauerritzen wuchsen.
Als sie die Häuser hinter sich gelassen hatte, setzte Maria Valeria sich auf eine Stufe und ließ den Blick über die felsige Bucht und die Küste entlangwandern. Sie fühlte sich wie ein Teil dieser Trockenmauer, an der sie lehnte, und gleichzeitig wie eine der Möwen, die im Aufwind kreisten. Sie war dieses Land, ein Weinstock, ein Ginsterbusch, eine Eidechse. Sie wusste, wie man Mauern baute, die das Land festhielten und vor dem Absturz ins Meer bewahrten, wusste, wie man Weinstöcke beschnitt, die Erde verbesserte. Wenn die Männer im Krieg waren oder sich in anderen Ländern verdingten, hatten stets die Frauen allein die schwere Arbeit verrichtet. Valeria hätte das Zeug dazu gehabt, dieses Land zu bewahren, war eine der wenigen Jungen gewesen, die mehr wollten als ein bequemes Leben. Valeria hatte sich nicht umgebracht, da war sich die alte Frau sicher. Ganz egal, was der Maresciallo auch sagte!
Sie zog sich an der Mauer hoch und stieg langsam weiter. Ehe sie die Straße nach La Spezia erreichte, bog sie in einen winzigen Pfad ein, der zu einem verwachsenen Gärtchen führte. Lange hatte hier niemand mehr die Wildnis gebändigt, und wieder spürte Maria Valeria einen heftigen Schmerz in der Herzgegend. Noch vor fünf Jahren hatte sie hier Gemüse angebaut, war beinahe jeden Tag heraufgestiegen. Irgendwann reichte ihre Kraft nicht mehr aus. Zu Beginn hatten ein paar Familienmitglieder abwechselnd den Garten gepflegt, seit einem Jahr kümmerte sich niemand mehr darum.
Wie schnell die Dinge verloren gehen, dachte Maria Valeria. Ihr kam dieser verwilderte Garten vor wie ein Fußabdruck im Sand, der vom Meer weggewaschen wird. Ihr eigener Abdruck war es, der hier zuwucherte, ein Stück ihres Lebens. So war es eben, ewige Wanderer waren die Menschen. Aber etwas hatte überlebt, ein Rosenbusch, dessen dunkelrote Blütenknospen sich gerade öffneten. Maria Valeria nickte, zog das kleine Messer aus ihrer Rocktasche und begann, Zweige abzuschneiden.
«Die sind für dich, Claretta», murmelte sie, «für dich und Valeria. Ihr gehört zusammen, ihr beide, wild und unbezwingbar, wie ihr wart!» Sie hatte Mühe, den Arm voll Rosen zur Straße hinaufzutragen und die letzten Meter zum kleinen Friedhof des Dorfes zu schaffen.
Claretta Cabuns Grab lag ganz am Rand, war in den Hang eingewachsen, überwuchert von Efeu. Maria Valeria legte die Rosen nieder und starrte auf das ewige Licht, das zwischen den dunklen Efeublättern flackerte. Wieder spürte sie Stiche in ihrem Herzen, ließ sich auf das Mäuerchen des Nachbargrabs sinken. Dieses Licht kam ihr vor wie ein Zeichen von Valeria. Es verwirrte sie, flößte ihr ähnliche Furcht ein wie das Donnern des Meeres. Sie konnte sich nicht vorstellen, wer dieses Licht auf Clarettas Grab gestellt hatte. Sie konnte nicht mehr aufstehen, nicht einmal die Rosen in eine Vase stecken, blieb einfach sitzen und schaute auf das Licht. Vielleicht würde sie hier sterben, vielleicht brannte deshalb das Licht, das in ihrem Herzen erloschen war. Es war ihr gleich, sie war schon lange bereit.
Aber sie starb nicht. Nach zwei Stunden wurde Maria Valeria von ihrer Nichte Alessandra gefunden.
«Dachte, dass du hier bist, zia», sagte sie und sammelte die Rosen ein, um sie in eine Vase zu stellen.
«Warum?», fragte Maria Valeria.
«Weil du es warst, die mir die Geschichte von Claretta erzählt hat, und weil Valeria tot ist.» Alessandra war eine Frau, die nicht viel redete. Eine der wenigen, die mit ihrem Mann noch in den Weinbergen arbeitete.
«Hast du das Licht angezündet?»
Alessandra nickte. «Weil Claretta doch so etwas wie unsere Schutzheilige ist, vero?»
«Vero!», murmelte die alte Frau und ließ sich von ihrer Nichte zum Auto führen.
Wieder war die Familie Cabun vor Laura im Polizeipräsidium angekommen. Claudia kochte Kaffee, organisierte Tassen bei den Kollegen.
«Warum so früh?», fragte Kommissar Baumann in komischer Verzweiflung. «Ich bin sicher, dass die italienische Polizei niemals so früh zu sprechen ist.»
Laura zuckte die Achseln. Ihr war nicht nach Scherzen zumute. Ihr Exmann hatte gerade angerufen, dass die Özmers Verhandlungen aufnehmen wollten. Wann Laura zu kommen gedenke.
«Nur wenn’s brenzlig wird», hatte sie geantwortet. «Ich habe einen Job, Ronald! Job!»
«Aber es sind verdammt nochmal deine Nachbarn und nicht meine!»
«Es waren auch mal deine, und du kennst die Lage mindestens so gut wie ich. Bitte,
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