Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
sogar deine Nachbarn! Du bist derartig verbandelt, dass du hier nie weggehen würdest! Ciao, ich muss jetzt wirklich los!»
«Ciao», murmelte Laura, ging langsam in die Küche und blieb ein bisschen verloren vor dem Kühlschrank stehen. Es war sehr ruhig in der Wohnung, so ruhig, dass ihr das Ticken der Küchenuhr unangenehm laut erschien. Luca und Sofia waren noch nicht zu Hause, Ülivia rührte sich nicht. Es war schon eine Weile her, dass Laura so etwas wie Stille wahrgenommen hatte.
War es für andere tatsächlich undenkbar, dass sie, Laura, ihre Stadt verlassen könnte? Plötzlich kam sie sich alt und festgefahren vor. Hätte sie Lust, nach Neuseeland auszuwandern? Eigentlich nicht – sogar ganz sicher nicht! Absolut nichts verband sie mit den Inseln am Ende der Welt. Sie kannte dort keinen Menschen, aß nicht einmal gern Kiwis, musste über diesen Gedanken lächeln. Nein, sie brauchte Neuseeland nicht, hatte ja gerade vor zweieinhalb Jahren ein neues Leben angefangen – zwar in der alten Wohnung, in der alten Stadt, aber trotzdem neu. Allein erziehende Mutter eben. Seitdem hatte sie keine Zeit mehr zum Nachdenken, das Leben zu überdenken.
Trotzdem irrte Teresa. Seit Laura Angelo kannte, stahlen sich immer wieder aufrührerische Gedanken in ihren Alltag. Es waren Vorstellungen einer neuen, unbekannten Freiheit, der Wunsch, alles aufzugeben, die Kinder zu Ronald zu schicken und nach Italien zu ziehen. Einfach leben, diese kostbare Begegnung ausleben. Hin und wieder überfiel Laura unvermutet Angst, dass ihre Liebe in diesen langen Trennungen versickern könnte.
Sie ließ sich auf einen der blau lackierten Stühle fallen, legte die Hände auf ihre Knie. Nein, sie würde Angelo nicht bitten, erst am Sonntag zu kommen. Ihretwegen konnte er auch schon am Karfreitag losfahren – übermorgen eben. Sie beschloss, noch an diesem Abend ihren Kindern von Angelo zu erzählen, wusste plötzlich selbst nicht mehr, warum sie es bisher nicht getan hatte, fand ihr eigenes Verhalten geradezu lächerlich.
Während sie mit geschlossenen Augen, Hände auf den Knien, beinahe wegdöste, störte etwas die Stille der Wohnung. Eine Tür öffnete sich leise, vorsichtige Schritte näherten sich, Dielen knarrten. Es fiel Laura schwer, die Augen zu öffnen. Vor ihr stand Ülivia, angekleidet, bleich, entstellt von den blaugrünen Blutergüssen.
«Ich gehe, Laura!» Sie schaute zu Boden.
«Was?»
«Ich gehen nach Hause. Ich heiraten diesen Mann! Dann Riza sehen, dass er nicht so behandeln kann eine Özmer. Kurden kann man nicht trauen!» Noch immer sah sie Laura nicht an, hielt den Blick gesenkt.
«Aber Ülivia! Du kennst den Mann doch gar nicht! Du musst ihn nicht heiraten … Wir finden schon einen Weg!»
«Ich will ihn aber heiraten!» Sie schaute schnell auf, wieder weg. Ihre Augen funkelten. «Ich will nicht verlieren meine Familie. Ich hasse Riza!» Tränen strömten plötzlich über ihr Gesicht. «Ich hasse ihn, hasse ihn!» Mit geballten Fäusten stand sie vor Laura und schluchzte.
«Ja», sagte Laura leise und streckte eine Hand nach Ülivia aus. «Das sehe ich.»
«Oh Laura, ich würde ihn am liebsten umbringen!»
«Sag das lieber nicht!»
«Es ist aber wahr!» Sie hörte so unvermutet auf zu weinen, wie sie angefangen hatte. «Keine Angst, Laura. Ich bringe ihn nicht um. Wegen so einem gehe ich nicht ins Gefängnis!» Sie nahm das Papiertaschentuch, das Laura ihr reichte, wischte sich das Gesicht trocken – sehr vorsichtig, denn die Blutergüsse schmerzten.
«Willst du wirklich zu deiner Familie?»
Ülivia nickte entschlossen.
«Sollen alle sehen, was sie gemacht! Ich nicht reden mit Papa! Mindestens zwei Tage! Mit meinem Bruder eine Woche!»
«Und Harun? Was machst du mit ihr?»
Ülivia zerknüllte das Taschentuch in ihrer Hand, zupfte kleine Fetzen heraus.
«Ich kann nicht leben ohne meine Schwester. Harun wollte mich beschützen vor Kurden. Ach, Harun!»
Wieder strömten die Tränen, und Laura dachte darüber nach, mit welchem Geschick Menschen das Verhalten anderer so umdeuteten, dass sie damit leben konnten. Die Bösen wurden zu Guten und umgekehrt – damit konnte man übersehen, dass niemand ganz gut oder ganz böse war. Und auf diese Weise löste sich die türkische Tragödie in Luft auf, noch ehe Lauras Kinder nach Hause kamen. Vater Özmer unterzeichnete beinahe feierlich den «Vertrag» und schwor Laura, dass er seine Tochter nicht mehr schlagen würde. Nein, der Bruder auch nicht. Niemand,
Weitere Kostenlose Bücher