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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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nicht alles.“
    Sibylla trank einen kleinen Schluck Tee. „In
diesen Zeiten verkaufen sich Luxuswaren am besten. Die Frauen von Kaid Samir
fertigen die entzückendsten Stickereien für mich, die du dir vorstellen kannst.“
Begeisterung klang aus ihrer Stimme. „In Europa reißen sich modebewusste Damen
um Taschentücher, Schals und Kissen, die von zarten Fingern in einem
orientalischen Harem gefertigt wurden. Zurzeit verhandle ich mit Stickerinnen
in Fès und Marrakesch, weil die Nachfrage so groß ist. Leider stehe ich in
Konkurrenz mit Kaufleuten aus Casablanca, und da der dortige Hafen größer und
moderner ist, habe ich keinen leichten Stand, und Sultan Sidi Mohammed
ignoriert alle Eingaben, die ich wegen eines Ausbaus des hiesigen Hafens
gemacht habe.“
    Im August war Moulay Abd Er Rahman, der
Marokko siebenunddreißig Jahre lang regiert hatte, gestorben, und sein Sohn
Sidi Mohammed IV war ihm auf den Thron gefolgt. Der neue Herrscher war bereits
ein gesetzter Mann von siebenundfünfzig Jahren und hatte ein schweres Erbe
angetreten. Sein Land war hochverschuldet, die Bevölkerung nach Missernten und
einer verheerenden Cholera-Epidemie unzufrieden und zur Revolte bereit.
Gleichzeitig konkurrierten Frankreich, England und seit neuestem Preußen um den
größtmöglichen Einfluss in seinem Land. Ihre Konsuln in Mogador und Tanger
redeten ganz offen darüber, dass es nur noch eine Frage der Zeit wäre, bis
einer der drei Staaten Marokko seinem Kolonialreich einverleibte.
    André hatte seine Tasse geleert und erhob
sich. „Es war schön, mit dir zu plaudern, Sibylla.“
    Auch Sibylla stand auf. „Wie lange bist du
noch in Mogador?“
    „Eine Woche. Ich habe eine lange
Einkaufsliste mitbekommen. Wahrscheinlich brauche ich einen Packesel, um alles
nach Hause zu schaffen.“
    Zu spät bemerkte er, dass Sibyllas Wangen
sich gerötet hatten, und er hätte sich ohrfeigen können. Er wusste doch, dass
jede Erwähnung seiner Familie in Qasr el Bahia den empfindlichen Frieden
zwischen ihnen ins Wanken brachte.
    Kühl erklärte Sibylla: „Ich muss ohnehin ins
Lager. Wenn ich dem Simsar des Kaids keine Zahlen liefere, darf ich mein Leder
morgen nicht verschiffen. Auf Wiedersehen, André. Ich wünsche dir frohe
Weihnachtstage.“
    Er wollte sich bedanken, aber sie war schon
an ihm vorbei, und er blickte nur noch auf ihren Rücken.
     
    Während Sibylla die Treppe hinunterstürmte,
fragte sie sich, ob sie ihm je verzeihen würde, dass er sie mit Aynur betrogen
hatte.
    Ein einziges Mal hatte es einen Moment
gegeben, in dem sie dazu bereit gewesen war: Als sie zum ersten Mal ihre
neugeborene Tochter im Arm hielt, ein winziges Bündelchen mit dem dunklen
Lockenschopf ihres Vaters. Doch ein paar Wochen später hatte Nadira ihr
berichtet, dass man sich auf dem Souk erzählte, dass Andrés Frau auf Qasr el
Bahia ein kleines Mädchen zur Welt gebracht hatte, nur sechs Wochen, nachdem
Emily geboren war. Danach hatte Sibylla sich schlimmer betrogen denn je gefühlt.
Hätte André sie nicht fünf Jahre später beinahe angebettelt, seinen Safran zu
begutachten, würde sie bis heute kein Wort mit ihm wechseln.
    Sibylla wollte die Lagertür öffnen, aber in
diesem Moment flog sie auf, und Emily stürzte herein. „Die Urania ist da,
Mutter! Tom und John sind zurück!“
    André, der Sibylla gefolgt war, konnte den
Blick nicht von ihr wenden. Emily war eine sehr hübsche junge Frau und eine
außergewöhnliche Erscheinung. Ihr langes schwarzes Haar trug sie offen, hatte
es nur mit einem bunten Tuch aus dem Gesicht gebunden. Ihre Augen waren von
einem tiefen fast lila wirkenden Blau. Wie ihre Mutter bevorzugte sie arabische
Frauenkleidung, aber bunt und strahlend, so wie ihre Bilder. Von weitem hätte
man sie für ein Berbermädchen halten können, allerdings war sie größer und
hatte diese ungewöhnliche Augenfarbe, die er bei den Einheimischen noch nie
gesehen hatte.
    André hatte sie von dem Moment an in sein
Herz geschlossen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, eine fröhliche
Fünfjährige, die voller Vertrauen seine Hand genommen und ihm ihre Spielsachen
gezeigt hatte. Er fühlte dieselbe starke Liebe für sie wie für seine vier
Kinder mit Aynur. Doch Emily war Benjamin Hopkins Tochter - behauptete
zumindest Sibylla. Er jedoch konnte rechnen und wusste, dass eine
Schwangerschaft neun Monate dauerte und nicht fast elf, wenn es stimmte, dass sie
Benjamin zum letzten Mal Ostern 1840 gesehen hatte. Vor Jahren hatte er
vorsichtig

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