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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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versucht, mit Sibylla über Emilys Vater zu sprechen. Aber sie war
geradezu zur Salzsäule erstarrt und hatte ihm gedroht, er dürfte Emily nie
wiedersehen, wenn er ihr Flausen in den Kopf setzen wollte. Aber als Emily
älter wurde, wuchs die schmerzliche Gewissheit, dass sie sein Kind war. Sie war
so anders als Benjamin Hopkins, und André sehnte sich danach, dass die Wahrheit
ans Tageslicht kam. Andererseits wollte er weder Sibylla in Verruf bringen noch
Emilys Zukunft mit einem Skandal ruinieren. Also hielt er sich zurück und sagte
sich, dass Benjamin Hopkins zumindest auf dem Papier der bestmögliche Vater für
Emily war.
    Sibylla riss ihn aus seinen Gedanken:
„Entschuldige, wenn ich mich jetzt verabschiede, André, aber ich möchte meine
Familie begrüßen.“
    Er nickte höflich. „Natürlich, du hast sie
viel zu lange nicht gesehen. Bitte bestell ihnen meine herzlichen Grüße. Joyeux
Noël à toute la famille.“
     
    „Das ist deine Mutter?“, wisperte Victoria
ungläubig. Sie saß neben ihrem Ehemann auf einem glitschigen Brett in einem
kleinen Boot, das sie von der Urania an Land brachte.
    „Ich habe meine Mutter zwar fünf Jahre nicht
gesehen, aber ja, ich würde sagen, das ist sie“, erwiderte John trocken. „Und
daneben steht meine Schwester Emily. Der ältere Mann im schwarzen Kaftan ist
der Hafenmeister, Mr. Philipps. Esel, mit denen wir heimreiten können, und
Gepäckträger für uns stehen auch bereit.“ Er blickte zu den drei Grautieren,
die mit ihrem arabischen Treiber im Hintergrund warteten.
    „Wir sollen auf Eseln reiten?“, rief Victoria
entsetzt aus. „Das kann nicht dein Ernst sein! Hat deine Mutter denn keinen
Wagen?“
    John wollte sich ausschütten vor Lachen.
„Eine Kutsche würde ihr hier überhaupt nichts nützen. Die Gassen der Medina
sind dafür viel zu eng. Ganz abgesehen davon sind die Straßen im ganzen Land
sehr schlecht. Nach hundert Yards hätten wir einen Achsenbruch. Nein, liebe
Victoria, in der Stadt gehen wir gewöhnlich zu Fuß, müssen wir übers Land,
reiten wir. Du wirst dich daran gewöhnen!“
    Während Victoria versuchte, diese Nachricht
zu verdauen, musterte sie ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerin. Sie sahen
sehr ungewöhnlich aus, was vor allem daran lag, dass sie nicht wie Victoria
gekleidet waren, die ein Kleid mit Korsett und weiter Krinoline und dazu einen
schicken federgeschmückten Hut gewählt hatte. Sie trugen – ja, was eigentlich?
- Nachthemden mit einer Hose darunter? Hüte hatten sie ebenfalls nicht auf.
Über dem Haar ihrer Schwiegermutter lag lediglich ein Schal, Emily hatte nur
ein buntes Tuch um ihre Locken geschlungen. Mit dem im Wind wehenden schwarzen
Haar glich sie – Victoria suchte vergeblich nach einem freundlicheren Ausdruck
– einer Zigeunerin. Unfassbar, dass diese beiden Frauen einer der angesehensten
Kaufmannsfamilien Englands angehörten!
    Wenn ich das Mutter schreibe, wird sie es
nicht glauben, dachte sie und schüttelte schockiert den Kopf.
    Sie hatte noch keinen Fuß in dieses Land
gesetzt und fühlte sich schon fremd hier. Da waren all die finster aussehenden
Araber mit ihren schwarzen Augen und struppigen schwarzen Bärten. Und dann die
halbnackten Sklaven, die ihr Boot ruderten! Ein skandalöser Anblick! Verschämt
begutachtete sie die nackten Oberkörper der Männer, deren pechschwarze Haut vor
Schweiß glänzte. Sie wurde schon verlegen, wenn sie ihren eigenen Mann derartig
entblößt sah, aber fremde Männer…
    Mit einem kleinen Ruck dockte das Boot an der
Kaimauer an.
    „Da wären wir!“ John erhob sich, reichte
seiner Frau die Hand und half ihr an Land. Dann nahm er Charlotte auf den Arm,
während die Kinderfrau Selwyn trug. Zum Schluss folgten Thomas und Sabri.
    Sibylla kam mit einem strahlenden Lachen auf
sie zu. Doch die Begrüßung ging in abscheulichen Klagelauten unter. Victoria bedeckte
erschrocken ihre Ohren. Aber außer ihr und der Kinderfrau schien sich niemand
gestört zu fühlen. Irritiert beobachtete sie, wie der Eseltreiber und die
Gepäckträger, die am Kai gewartet hatten, kleine Teppiche auf dem Lehmboden
ausbreiteten. Sie klaubten etwas Staub vom Boden und rieben sich damit über
Gesicht und Arme, als würden sie sich waschen, und knieten sich dann auf ihre
Teppiche, die Stirn auf die Erde gelegt, wobei sie leise vor sich hinmurmelten.
Nach wenigen Minuten erhoben die Mauren sich wieder, rollten ihre Teppiche
zusammen und fingen an, sich Kisten und Körbe aufzuladen, als wäre

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