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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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stellen.
Aber jedes Mal, wenn er auf dieses Thema kam, baute sie die Mauern um sich
wieder auf.

Kapitel
einundzwanzig
     
    Emily Hopkins saß auf der Kaimauer, schob
sich eine getrocknete Dattel in den Mund und blickte auf das Lagerhaus, in dem
André Rouston verschwunden war. Sie mochte Monsieur Rouston wirklich gern. Er
interessierte sich für sie, fragte immer, wie es ihr ginge, und brachte ihr
jedes Mal ein kleines Geschenk mit. Heute waren es Datteln von seinem Gut.
    Als Emily jünger gewesen war, hatte sie sich
manchmal vorgestellt, Monsieur Rouston wäre ihr Vater. Von ihrem wirklichen
Vater Benjamin Hopkins wusste sie kaum etwas, außer dass er vor ihrer Geburt
bei der Bombardierung von Mogador ums Leben gekommen war. Ihre Mutter redete
nicht gern über ihn. Aber Firyal hatte ihr erzählt, dass er ein feiner Herr
gewesen und wie ein Held gestorben wäre.
    „El Sayyid Hopkins war sehr stattlich“, hatte
sie andächtig gesagt. „Es war meine Aufgabe, mich um seine Anzüge zu kümmern.
Er besaß elegante Anzüge aus England, nicht die Kittel, die die arabischen
Männer tragen. Er war auch größer als ein arabischer Mann und hatte nicht so
struppige schwarze Haare. Die Haare des Herrn waren wie Gold.“
    Leider hatte Emilys Mutter Firyal dabei
erwischt, wie sie vom Herrn geschwärmt hatte, und sie sofort in die Küche
geschickt. Danach hatte Firyal nicht mehr von Emilys Vater gesprochen.
    Die andere Dienerin, Nadira, erwähnte den
Herrn auch nie. „Die Herrin will nicht, dass über den verstorbenen Herrn
geredet wird“, hatte sie Emily erklärt. „Es bereitet ihr Schmerz.“
    Ein einziges Mal hatte Emily ihre Mutter
gefragt, ob ihr eigentlich aufgefallen wäre, dass sie und Monsieur Rouston
dieselben dunklen lockigen Haare hatten. Leider war ihre Mutter so ärgerlich
geworden, dass Emily solche Beobachtungen nie wieder erwähnte.
    Sie nahm sich noch eine Dattel und blickte zu
dem Fischer, der in seinem kleinen am Kai vertäuten Kahn hockte und sein Netz
flickte, ohne sich von dem leichten Schaukeln des Bootes stören zu lassen. Das
Netz lag aufgewickelt neben ihm, aber er breitete es Meter für Meter auf seinem
Schoß aus und untersuchte das Maschenwerk sorgfältig nach Rissen.
    Emily wandte sich dem Block auf ihren Knien
zu, nahm ihren Kohlestift und begann, zu zeichnen. Erst fertigte sie eine grobe
Skizze an, dann widmete sie sich den Feinheiten. Sie fing die von Wind und
Wetter gegerbten Züge des Fischers ein, die vom anstrengenden Leben auf dem
Meer erzählten, aber auch die Konzentration, mit der er sein Arbeitswerkzeug
reparierte. Sie zeichnete seinen gebeugten Rücken, seine gekrümmten Finger, die
die große Holznadel mit dem Garn durch die Löcher schoben, um die Maschen neu
zu verknüpfen.
    Seit Emily denken konnte, hatte sie
leidenschaftlich gern gemalt. Sie hatte ihre Märchenbücher vollgekritzelt, die
weiß gekalkten Wandflächen ihres Zimmers, und später in der Schule hatte sie
statt Zahlen und Buchstaben Figuren und Landschaften auf ihre Schiefertafel
gemalt. Ihr Lehrer war sehr ungehalten gewesen, als er sein Porträt mit
unschmeichelhafter Knollennase in Emilys Rechenbuch entdeckt hatte, aber ihre
Mutter hatte später mit ihr darüber gelacht. Danach hatte sie ihr Buntstifte
und Zeichenpapier aus England bestellt und ein Buch, aus dem Emily lernte, wie
sie aus geometrischen Figuren Menschen und Tiere entwickeln konnte, wie sie
Perspektiven einhielt und Größenverhältnisse anpasste.
    Doch dabei handelte es sich um eine erlernte
Technik. Den Ausdruck, den ihre Zeichnungen besaßen, hatte ihr niemand
beigebracht. Monsieur Rouston hatte einmal gesagt, dass sie die Seele ihrer
Motive erspürte und in ihren Bildern sichtbar machte, und zu ihrem fünfzehnten
Geburtstag hatte er ihr eine Staffelei, Leinwände, Pinsel und Farben geschenkt.
    Besonders gern zeichnete Emily am Hafen oder
im Souk, dort, wo buntes Treiben herrschte. Viele Bewohner Mogadors kannten sie
und ließen sich gern porträtieren, doch andere mochten es nicht, weil sie es
als Frevel gegen Allah, den alleinigen Schöpfer alles Lebendigen, betrachteten.
    Der Fischer an der Kaimauer hatte nichts
dagegen, dass Emily ihn zeichnete. Immer wieder blickte er freundlich in ihre
Richtung. Mit wenigen Strichen skizzierte sie den Faltenwurf seines Kittels und
verwischte mit dem Daumen ein paar Linien, um Schatten anzudeuten. Schließlich
war die Zeichnung fertig. Sie kritzelte ihren Namen und das Datum auf den
unteren Rand und steckte

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