Die Loewin von Mogador
nichts
gewesen. Victoria, die das Ganze misstrauisch verfolgt hatte, fragte sich, was
für eine seltsame Beschwörung da wohl stattfand.
„Die Männer sind dem Aufruf des Muezzins zum
Mittagsgebet gefolgt. Araber beten fünfmal am Tag zu ihrem Gott. Sie gehen
dieser Pflicht mit Ernst und Feierlichkeit nach“, erklärte Sibylla, die sie
beobachtet hatte.
Victoria sah sie nur groß an, und Sibylla
fuhr fort: „Du wirst dich an die fremden Sitten hierzulande gewöhnen.“ Sie
umarmte ihre Schwiegertochter. „Du bist also Johns Frau. Ich freue mich, dich
endlich kennenzulernen und dir von nun an eine zweite Mutter zu sein! Hattet
ihr eine angenehme Reise? Ich erinnere mich gut, wie eng und unbequem es auf
einem Segelschiff ist!“
„Um ehrlich zu sein, war die Reise eine
Tortur. In der Nordsee stürmte es so, dass ich Angst hatte, wir würden
Schiffbruch erleiden“, berichtete Victoria.
Sibylla nickte mitfühlend. Dann wandte sie
sich den beiden kleinen Kindern zu: „Und ihr seid meine Enkel, Charlotte und
Selwyn. Wollt ihr eurer Großmutter guten Tag wünschen?“
Das kleine Mädchen erwiderte ihren Blick
neugierig. Selwyn aber versteckte das Gesicht an der Schulter seiner
Kinderfrau. Sibylla streichelte ihm über das Köpfchen.
„Du musst keine Angst vor mir haben, kleiner
Mann. Schau mal, das große Storchennest dort drüben. So etwas gibt es in London
nicht.“ Sie zeigte auf den Turm der Kasbah. Zögernd wandte der Kleine den Kopf,
gleich darauf schüttelte ihn ein Hustenanfall.
„Na, na, na! Da ist noch die schmutzige
Londoner Luft in deiner Lunge. Keine Sorge, in diesem Klima wirst du gesund.“
Sibylla nahm Selwyn aus den Armen seiner Kinderfrau und streichelte seinen
Rücken.
Victoria beobachtete verblüfft, wie ihr Sohn
sich vertrauensvoll an Sibylla schmiegte. „Fremden gegenüber ist er sonst sehr
zurückhaltend.“
„Oh, wir sind doch keine Fremden, wir
verstehen uns schon sehr gut, nicht wahr, Selwyn?“ Sibylla küsste den Kleinen
noch einmal und reichte ihn der Kinderfrau zurück.
„Guten Tag, Mutter. Hast du jetzt endlich
Zeit für deinen Sohn?“, scherzte John. Der Zweiundzwanzigjährige sah er seinem
Vater so ähnlich, dass Sibylla sich einige verwirrende Sekunden in die lange
zurückliegende Zeit versetzt fühlte, als Benjamin ihr den Hof gemacht hatte.
Mit Tränen in den Augen schloss sie ihren jüngeren Sohn in die Arme. „Ich bin
so glücklich! Jetzt feiern wir doch alle zusammen Weihnachten.“
Thomas und Sabri standen nebeneinander auf
dem Kai. „Du betest nicht, mein Freund?“, fragte Thomas verwundert.
„Für mich hat Gott keine Religion“, erwiderte
der junge Araber. „Ich spreche oft zu Allah, aber nicht immer dann, wenn der
Koran es vorschreibt.“
„Deinem Vater hätte diese Antwort nicht
gefallen“, bemerkte Thomas nüchtern. Sabris Vater, Abdul bin Ibrahim leitete
die Zaouia von Mogador. Außerdem hatte er die Pilgerreise nach Mekka absolviert
und durfte sich Hadj nennen. In der Stadt zählte er zu den angesehensten
Männern.
„Ich bin ein Sohn zweier Welten“, erklärte
Sabri. „Wie du weißt, gehörte meine Mutter der christlich-orthodoxen Kirche
ihres Landes an. Erst als sie die zweite Frau meines Vaters wurde, trat sie zum
Glauben des Propheten über.“
Sabris Mutter Almaz stammte aus Abessinien.
Sein Vater hatte sie während seiner Pilgerreise auf einem Sklavenmarkt bei
Mekka gekauft und nach Mogador gebracht. Nachdem sie Sabri, Hadj Abduls
einzigen Sohn, geboren hatte, hatte er sie zu seiner zweiten Frau genommen.
Thomas klopfte seinem Freund leicht auf die
Schulter. „Da kommt meine Mutter. Sie will dich gewiss begrüßen!“
Sabri wandte lächelnd den Kopf, doch sein
Blick traf nicht auf Sibylla, sondern auf Emily. Seit er nach Fès gegangen war,
um dort arabische Heilkunde zu studieren, hatte er sie nicht mehr gesehen, und
er erkannte sie kaum wieder. Aus dem dünnen kleinen Mädchen mit endlos langen
Armen und Beinen war eine Frau geworden. Sie schaute ihn ebenfalls an und
senkte aber sofort den Blick. Eine zarte Röte überzog ihre Wangen, und mit
einer anmutigen Handbewegung warf sie ihr Haar zurück. Ein Sonnenstrahl blitzte
in ihren Ohrringen, und Sabri fiel auf, dass sie dieselbe ungewöhnliche Farbe
hatten wie ihre Augen. Er wollte unbedingt, dass sie ihn noch einmal mit ihren
amethystblauen Augen ansah, und gerade als ihm dieser Wunsch durch den Kopf
ging, tat sie es. Dabei lächelte sie verschmitzt, und er bewunderte
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