Die Loewin von Mogador
Hamburg und
Victoria hatten Stickarbeiten mitgebracht und saßen am anderen Tisch.
In Gesellschaft dieser Frauen, Europäerinnen
wie sie selbst, fühlte Victoria sich wohl. Diese Frauen kleideten sich wie sie,
dachten wie sie und unterhielten sich in Sprachen, die sie verstand. Doch
leider dauerten ihre Zusammenkünfte immer nur wenige Stunden. Dazwischen
wartete, wie seit Wochen und Monaten, nur ein trostloser Alltag.
Widerstrebend öffnete Victoria die Augen
wieder und sah gerade noch, wie das eine der beiden schwarzen Mädchen ein
gelangweiltes Gähnen unterdrückte, während das andere den beiden grün
gefiederten Papageien, die in einer Ecke auf einer Stange saßen, Grimassen
schnitt.
Warum ist meine Schwiegermutter so anders als
diese Frauen, grübelte sie. Wie kann eine Engländerin die Gesellschaft von
Araberinnen diesem kultivierten Beisammensein vorziehen? Ihre Schwägerin Emily
war auch nicht besser. Genau genommen war sie für Victoria eine noch größere
Enttäuschung als Sibylla. Auf der Schiffsreise hatte sie sich vorgestellt, dass
sie und die fast gleichaltrige Emily Freundinnen würden. Doch Victoria war bald
eines Besseren belehrt worden. Dass Emily immer sehr nett zu ihr war, konnte
sie nicht bestreiten, aber sie waren beide grundverschieden. Einmal hatte
Victoria versucht, Emily von London zu erzählen. Sie hatte die National PortrAit
Gallery beschrieben, in der John und sie sich zum ersten Mal begegnet waren,
die Oper in Covent Garden, die eleganten Läden, Kaufhäuser und Arkaden zwischen
Knightsbridge und Piccadilly. Aber Emily hatte überhaupt nicht verstanden, was
Victoria meinte. Ihr Kommentar hatte tatsächlich gelautet, dass es dort
zuzugehen schien wie auf einem Souk!
„Ich glaube, unsere liebe Mrs. Hopkins ist
gerade sehr weit weg!“ Die amüsiert klingende Stimme der italienischen
Konsulsgattin riss Victoria aus ihren Gedanken. Hastig beugte sie sich über ihr
Stickzeug und tat, als würde sie das Muster betrachten.
„Verraten Sie uns, was Sie so beschäftigt?“
Die Italienerin lächelte liebenswürdig.
Victoria wollte nicht zugeben, dass sie große
Schwierigkeiten hatte, sich in Marokko einzuleben, und entgegnete: „Ich habe
mich gerade gefragt, warum meine Schwiegermutter mich nie hierher begleitet.
Ich hatte gehofft, sie würde es heute tun, aber sie hat wieder abgelehnt.“
Sara ließ ihr Buch in den Schoß sinken. „Mrs.
Hopkins hat gewöhnlich Wichtigeres zu tun, als an unseren harmlosen Vergnügen
teilzunehmen.“
Victoria blickte erstaunt. Dieser ärgerliche
Tonfall passte gar nicht zu der stets freundlichen Gattin des englischen
Konsuls!
Die Gattin des französischen Konsuls wippte
mit ihrem Kartenblatt und erklärte: „Ich kann Madame Hopkins verstehen.
Franchement, meine Damen, unsere kleinen Rendez-vous sind sterbenslangweilig.
Wir sticken Deckchen, die niemand braucht, und spielen Karten in der Hoffnung,
dass die Zeit schneller verstreicht.“
„Sie dürfen Ihre Zeit gern anderswo
verbringen, wenn es Ihnen in meinem Haus zu langweilig ist!“ empörte Sara sich
beleidigt.
„Mille regrets, Madame Willshire! Das war
sehr unhöflich von mir“, beschwichtigte die Französin. „Aber gleicht in Mogador
nicht ein Tag dem anderen? Wünschen wir uns nicht alle manchmal weit fort von
hier? Madame Hopkins füllt ihre Zeit mit sinnvoller Arbeit, und ich gebe zu,
dass ich sie darum bisweilen beneide. Ich persönlich würde mir allerdings
weniger Arbeit und mehr Amüsement wünschen…“
„Oder Mrs. Hopkins verkehrt lieber mit
Maurinnen als mit uns“, bemerkte ihre Tochter schnippisch.
„Sie spricht Arabisch?“, staunte die
preußische Kaufmannsfrau.
„Bien sûr, sogar fließend. Manche sagen, die
Jahre in Mogador haben Madame Hopkins zu einer Maurin gemacht, aber ich würde
das nicht so sehen“, erklärte die Französin.
„Wie würden Sie es denn sehen?“, erkundigte
Sara sich mit säuerlicher Miene.
„Nun, sie ist bei den Mauren höher angesehen
als irgendein anderer Ausländer hier. Sie haben nicht vergessen, wie sie der
Stadt nach dem unglückseligen affrontement mit meinem Heimatland half.“
„Mein Mann glaubt, dass sie mit ihrer
Großzügigkeit ihre eigenen Schandtaten vergessen machen wollte“, warf
Portugiesin sie an Victoria gerichtet hinzu.
Victoria starrte sie erschüttert an und
schwieg.
„Ach, was sollen denn diese alten
Geschichten? Das ist doch nur dummer Klatsch“, mischte die Italienerin sich
ein.
„Als Klatsch würde ich
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