Die Loewin von Mogador
füllten sie ihr Haus mit Schwermut und Missstimmung.
Die Unterhaltung schleppte sich dahin, Emily
und Victoria redeten nur, wenn Sibylla sie ansprach, und auch dann antworteten
sie einsilbig. Als Thomas und John endlich hereinkamen, lächelte Sibylla ihren
Söhnen fast erleichtert zu.
John, ihr zupackender Jüngerer, steckte wie
immer voller Tatendrang und schnitt sofort sein Lieblingsthema an: Die Vorteile
der Dampfschifffahrt gegenüber den Großseglern.
Sibylla vertrat dazu eine andere Meinung. Sie
sah vor allem die horrenden Kosten, die Entwicklung und Bau von
kohlebetriebenen Stahlschiffen verursachten, und bald waren Mutter und Sohn in
eine lebhafte Diskussion vertieft.
Thomas stand am Kaminsims, nippte an seinem
dampfenden Tee und blickte zu Emily. Seit er ihr erzählt hatte, dass Sabris
Eltern längst eine Braut für ihren Sohn ausgesucht hatten, war sie nicht mehr
dieselbe, und er fragte sich oft, ob er diese Information nicht besser für sich
behalten hätte. Vermutlich hätte ihre kleine Schwärmerei für Sabri mit ihrer
Abreise nach London ganz von selbst geendet. Er setzte sich neben sie auf das
Sofa und stupste sie freundschaftlich an. „Ich dachte, du freust dich auf
England. Dabei schaust du drein wie sieben Tage Regenwetter.“
Emily zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte
gerade daran gedacht, wie sie heute vor dem Hamam fast mit Sabri
zusammengestoßen wäre. Er hatte sie gefragt, warum sie ihn nicht mehr in der
Praxis besuchte, aber sie war einfach weggelaufen wie ein dummes kleines Kind.
Johns ungeduldige Stimme tönte durch den
Salon: „Glaub mir, Mutter! Wenn wir jetzt investieren, werden wir allen
Konkurrenten um Längen voraus sein! Vertrau mir doch! Wozu hast du mich
jahrelang in London ausbilden lassen, wenn ich meine Kenntnisse jetzt nicht
nutzen darf?“
„Warum schreibst du nicht Vater und bittest
ihn um Unterstützung?“, mischte Victoria sich ein. „Mit den Stahlwerken meiner
Familie bleiben die Kosten gewiss im Rahmen.“
Doch John wischte ihr freundlich gemeintes
Angebot mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. „Davon verstehst du
nichts, Victoria. Ich habe deinem Vater längst geschrieben und ihn um Rat
gefragt. Er ist übrigens meiner Meinung, Mutter – in der Dampfschifffahrt liegt
ein Riesengeschäft. Mit Dampfschiffen aus Stahl wären wir schneller als die
Konkurrenz, wir hätten mehr Frachtraum zur Verfügung und würden mehr Geld
verdienen als andere Reedereien.“
Sibylla goss sich eine frische Tasse Tee ein.
„Auch wenn du recht haben solltest: Der Hafen von Mogador ist für Dampfschiffe
viel zu klein.“
„Darum will ich ja, dass der Kaid den Hafen
ausbaut“, erwiderte ihr Sohn.
„John!“ Victorias Stimme klang schrill.
„Findest du nicht, dass du gerade ziemlich unfreundlich zu mir warst?“
Überrascht wandte er sich um. „Wieso? Was
hast du denn?“
„Das fragst du mich wirklich? Wenn du dich
nicht immer nur um dich und deine Geschäfte kümmern würdest, würde dir
vielleicht auffallen, dass du mich seit Monaten vernachlässigst!“ Mit jedem
Wort wurde sie lauter. Aber bevor John sich eine Antwort überlegen konnte,
wurde die Salontür geöffnet, und Nadira kam mit den Zwillingen herein. Sie
hatten ihre Nachthemden an. Charlotte trug ihre Lieblingspuppe im Arm.
„Sagt euren Eltern gute Nacht!“ Nadira gab
beiden einen aufmunternden Klaps.
Victorias Miene entspannte sich ein wenig,
als die Kleinen fröhlich lostrippelten. Doch sie liefen nicht zu ihr, sondern
zu Sibylla. Rasch nahm Nadira sie an der Hand und führte sie zu Victoria, die
die Szene starr vor Zorn beobachtet hatte. „Geht!“, zischte sie Charlotte und
Selwyn an. „Geht zu eurer Großmutter! Da wolltet ihr doch sowieso hin!“ Sie
fasste Charlotte, die sie verdattert anstarrte, am Arm und verpasste ihr einen
kleinen Schubs. Charlotte stolperte, ihre Puppe rutschte ihr aus der kleinen
Hand, fiel auf den Boden, und der Porzellankopf zersprang klirrend.
„Victoria!“, explodierte John. „Bist du
völlig verrückt geworden?“
Charlotte begann, laut zu weinen. Sibylla
eilte zu ihr und nahm sie auf den Arm, wo die Kleine sich schluchzend an ihre
Schulter drückte.
Victoria wurde ganz heiß. Ihr Herz schlug
heftig unter dem eng geschnürten Korsett. Sie hatte doch nicht grob zu ihren
Kindern sein wollen! Gleichzeitig verspürte sie eine ohnmächtige Wut auf ihren
Ehemann und ihre Schwiegermutter.
„Du wagst es, mir Vorwürfe zu machen?!“, fuhr
sie John an.
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