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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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Lehrskelett, das er der medizinischen Schule des Charing Cross
Hospital abgekauft hatte. Als besonderen Scherz hatte John dem Knochenmann
einen seiner alten Anzüge angezogen, bevor er Thomas damit überrascht hatte.
Jetzt stand das Skelett in einer Ecke des Sprechzimmers – ohne Anzug, dafür
aber mit Thomas‘ Hut auf dem Kopf – und erfreute damit besonders die kleinen
Patienten.
    „Du besuchst uns in letzter Zeit sehr oft“,
stellte Thomas fest, während er die Tür hinter sich schloss.
    „Ich interessiere mich eben für Medizin.“
    Er schüttelte den Kopf. „In deinem ganzen
Leben hast du dich noch nicht um diese Wissenschaft gekümmert. Ich sehe dir an
der Nasenspitze an, dass du schwindelst, Schwesterchen.“
    „Ist dir noch nie in den Sinn gekommen, dass
du dich irrst?“
    Statt zu antworten, umfasste Thomas Emilys
Handgelenk. „Die Diagnose ist einfach“, stellte er nach einigen Sekunden fest.
„Dein Puls rast, und ich wette, dein Herz schlägt genauso schnell. Diese
Symptome weisen auf die ernste und gefährliche Krankheit der Verliebtheit hin.
Ich glaube, Emily, diese Krankheit hast du meinem Freund bin Abdul zu
verdanken.“
    „Du phantasierst!“ Sie drehte ihm den Rücken
zu und beschäftigte sich mit dem Essenskorb.
    Er musterte sie nachdenklich. „Weiß Mutter
davon?“
    „Nein! Es gibt auch nichts, was sie wissen
müsste!“
    Er atmete auf. Nicht dass er seiner Schwester
und seinem besten Freund kein gemeinsames Glück gegönnt hätte, aber ihre
Verbindung war aussichtslos, einfach unmöglich. Er legte einen Arm um Emily.
    „Du bist eine erwachsene Frau, deshalb will
ich ganz offen mit dir reden. Verabschiede dich von dieser Schwärmerei! Sabri
wird sie niemals erwidern.“
    „Woher willst du das wissen?“ Sie wollte sich
befreien, aber Thomas hielt sie weiter fest.
    „Sabris Eltern haben für ihren Sohn schon
eine Ehefrau ausgesucht, als er noch ein Kind war. Das hat er mir selbst
erzählt, und du weißt so gut wie ich, dass diese Verbindungen unauflöslich
sind.“
    „Das hast du dir ausgedacht“, entgegnete sie
kleinlaut. „Du willst mich ärgern.“ Sabri war doch im Begriff gewesen, sie um
ein Rendezvous zu bitten, als Thomas hereingeplatzt war. Das hatte sie sich
doch nicht eingebildet!
    Thomas zog seine Schwester enger an sich.
„Hältst du mich wirklich für so grausam? Du weißt, dass Sabri seinen Eltern
gegenüber zu Respekt und Gehorsam verpflichtet ist. Sollte er Gefühle für dich
hegen, müssten sie hinter dieser Pflicht zurücktreten.“
    Emily ließ sich auf den nächstbesten Stuhl
fallen. Vor ein paar Minuten war sie noch so glücklich gewesen, jetzt fühlte
sie sich völlig niedergeschlagen.
    „Bald wirst du nach England reisen“, hörte
sie Thomas‘ Stimme. „Du wirst das Land unserer Eltern kennenlernen und Malerei
studieren. Das hast du dir doch immer gewünscht.“
    Sie antwortete nicht. In ihren Augen standen
Tränen.
    „Mit etwas Abstand sieht alles nicht mehr so
schlimm aus“, versuchte Thomas, sie zu trösten. „In London wirst du viele
interessante Menschen kennenlernen und deinen Kummer vergessen. Und es wird
wieder einen netten jungen Mann geben, der dein Herz gewinnt.“
    „Was weißt du schon davon! Das Einzige, was
du je geliebt hast, ist doch deine Arbeit!“ Emily lief aus dem Zimmer und warf
die Tür hinter sich zu.

Kapitel
dreiundzwanzig
     
    Auf dem Dach des englischen Konsulats herrschte
eine friedliche, entspannte Stimmung. Licht fiel durch die als Sonnenschutz
aufgespannten Strohmatten und malte goldene Flecken auf den Boden. Die Luft
duftete nach Meersalz und frisch gebackenen Rosinenbrötchen. Sara Willshires
Gäste saßen auf Korbstühlen, die um zwei Klapptische gruppiert waren. Dahinter
stand jeweils ein schwarzes Mädchen und fächelte den Damen mit einem Palmwedel
frische Luft zu. Sara Willshire schlug die erste Seite von Wilkie Collins‘
Roman „Die Frau in Weiß“ auf und begann, mit klarer, deutlicher Stimme
vorzulesen. Victoria hob ihre Teetasse, schnupperte mit geschlossenen Augen das
Bergamotte-Aroma und fühlte sich für ein paar schmerzliche Sekunden nach
England zurückversetzt.
    „Ich eröffne“, hörte sie die Gattin des
französischen Konsuls sagen. Sie saß an einem der beiden Klapptische und
spielte mit ihrer Tochter und zwei Kaufmannsfrauen aus England und Portugal
Bridge. Die Gattin des italienischen Konsuls, eine junge, ebenfalls erst vor
ein paar Monaten angereiste Kaufmannsfrau aus dem preußischen

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