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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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das nicht bezeichnen“,
warf Sara spitz ein.
    Victoria konnte sich nicht länger
zurückhalten: „Was meinen Sie?“
    „Oh, es gibt da ein sehr interessantes
Geheimnis, das Ihre Schwiegermutter hütet“, ließ Sara Willshire sich vernehmen.
„Natürlich wird darüber nicht offen gesprochen, aber wer Augen hat, um zu
sehen, und einen Kopf, um zu rechnen…“
    „Was meinen Sie damit, Mrs. Willshire?“,
wollte nun auch die junge preußische Kaufmannsfrau wissen.
    Sara beugte sich auf ihrem Stuhl vor. „Ist
Ihnen noch nie aufgefallen, meine Liebe, dass Emily ganz anders aussieht als
alle anderen Familienmitglieder?“
    „Sie ähnelt vermutlich ihrem Vater“,
antwortete Victoria unsicher.
    „Ganz genau, sie ähnelt ihrem Vater. Benjamin
Hopkins allerdings, Sibyllas Ehemann, war blond – wie Ihr eigener Gatte und
dessen Bruder. Emilys Haar aber…“
    „…ist schwarz“, vollendete Victoria tonlos.
Niemand außer Emily, weder bei den Spencers noch bei den Hopkins, hatte dunkles
Haar.
    Ein Lächeln der Genugtuung breitete sich über
Saras Gesicht. „Haben Sie eigentlich schon Monsieur Rouston kennengelernt,
Victoria? Den Franzosen, der Ihrer Schwiegermutter seinen Safran verkauft?“
     
    Beim Abendessen wirkten Victoria und Emily
still und in sich gekehrt. Emily stocherte mit unglücklicher Miene auf ihrem
Teller herum und wünschte sich und Sabri an einen Ort, wo niemand sie kannte
und ihnen vorschrieb, ob sie sich lieben durften oder nicht.
    Auch Victorias Gedanken überschlugen sich.
Durfte sie den ungeheuerlichen Behauptungen von Mrs. Willshire und den anderen
Damen Glauben schenken? Führte ihre Schwiegermutter tatsächlich ein skandalöses
geheimes Liebesleben mit dem Franzosen André Rouston?
    Sie selbst hatte Rouston nur ein Mal
getroffen, als sie mit Sibylla zum Einkaufen auf dem Souk gewesen war. Ein liebenswürdiger
gutaussehender Mann. Aber sie konnte sich nicht erinnern, dass sein Charme bei
ihrer Schwiegermutter verfangen hatte – im Gegenteil: Sie hatte sich kühl und
distanziert verhalten.
    Sie warf Emily einen verstohlenen Blick zu.
Wie Rouston hatte sie dunkle Haare und einen bräunlichen Teint. Auch die leicht
gebogene Nase erinnerte sie an Rouston. Je länger Victoria darüber nachdachte,
desto wahrscheinlicher erschien es ihr, dass nicht Benjamin Hopkins, sondern
André Rouston Emilys Vater war.
    Sie zuckte zusammen, als John ihre Hand
berührte. „Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Victoria? Ich glaube, du hast
gar nicht zugehört. Mutter will mir die alleinige Verantwortung für die
Geschäfte hier übertragen, wenn sie im Herbst Emily nach London begleitet. Ist
das nicht großartig?“
    Während Victoria Begeisterung heuchelte,
schweiften ihre Gedanken bereits wieder zu Sara Willshires Enthüllungen.
Angewidert kräuselte sie die Lippen. In was für eine Familie hatte sie nur
eingeheiratet?
     
    Ende September hatten Sibylla und Emily ihre
Reisekisten für England gepackt, und die ganze Familie hatte sich zum
Abschiedsessen getroffen. Nachdem Sibylla die Tafel aufgehoben hatte, zogen
Thomas und John sich in Johns Büro zurück, um zusammen eine Zigarre zu rauchen
– eine neue europäische Mode, die sie sich in London angewöhnt hatten.
    Sibylla, Victoria und Emily begaben sich in
den Salon. Firyal servierte Tee, kandierte Mandeln und in Rosensirup getauchte
Zitronenschale. Duftharzbröckchen in den Kohlebecken verbreiteten würzige
Aromen. Im Salon aber herrschte ungemütliche Stille. Sibylla warf einen
verstohlenen Blick auf ihre Tochter. Emily hatte sich eines der bestickten
Kissen vom Sofa genommen, umschlang es mit beiden Armen und drückte es an ihren
Bauch. Sie wirkte abwesend, wie so oft in der letzten Zeit. Nicht einmal mehr
das Malen schien ihr Freude zu machen. Vielleicht war sie einfach nervös
angesichts der Reise ins ferne Europa. Vielleicht nagte auch ein heimlicher
Kummer an ihr. Doch wenn Sibylla fragte, behauptete Emily stets, ihr fehlte
nichts.
    Victoria saß auf einem anderen Sofa und
blickte starr in die Luft. Wie Emily wirkte sie unglücklich und in sich
gekehrt. Sibylla hätte sich ein herzlicheres Verhältnis mit der Frau ihres
Sohnes gewünscht, doch was sie auch versuchte – Victoria begegnete ihr
abweisend. Auch zu Emily suchte sie keinen Kontakt. Dabei waren die beiden fast
gleich alt und hätten gut Freundinnen werden können. Sibylla unterdrückte ein
Seufzen. Sie beherbergte zwei junge Frauen unter ihrem Dach, doch statt mit
Lachen und Lebensfreude

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