Die Loewin von Mogador
ihn dir nur an!“, schrie Victoria. „Du
hast ihn mir entfremdet!“ Tränenüberströmt rannte sie ins Haus.
„Maristan“ stand in geschwungener arabischer
Schrift und darunter auf englisch „Krankenhaus“ über dem Eingangsportal des
zweistöckigen Riads. Die neue Praxis von Doktor Thomas Hopkins und Doktor Sabri
bin Abdul lag hinter der Moschee in direkter Nachbarschaft zur Zaouia. Zur Zeit
der Stadtgründung hatten die Mauern ebenfalls ein Krankenhaus beherbergt, aber
während der letzten Jahre hatte das Gebäude leer gestanden und war langsam
verfallen, bis Thomas und Sabri es zu neuem Leben erweckt hatten.
Emily trat durch das zweiflüglige Tor und
freute sich über den Anblick der frisch gestrichenen weißen Mauern und der
neuen grün glasierten Ziegel auf dem Dach. Im Innenhof hatten Thomas und Sabri
den Boden neu pflastern lassen, der Brunnen plätscherte wieder, und mehrere
Palmen spendeten mit ihren ausladenden Kronen Schatten. Rings um den Hof
verlief ein Säulengang. An den einander gegenüberliegenden Seiten standen Bänke
für die Patienten bereit. Links warteten gewöhnlich die Ausländer auf Thomas,
doch seine Sprechstunde war bereits vorbei. Auf der rechten, Sabri vorbehaltenen
Seite hingegen drängten sich die Menschen. Alte und Junge, Männer und Frauen,
Kinder und greinende Babys hatten Platz auf den Bänken oder dem Boden gefunden.
Sie waren barfuß und in schmutzige Lumpen gehüllt, mit strähnigem Haar oder
verfilzten Bärten. Emily sah offene Wunden und eiternde Geschwüre, manchen
fehlte ein Arm oder ein Bein. Ein dürrer Alter stand am Brunnen und trank
durstig, ein einäugiger in eine räudige Decke gehüllter Mann reinigte sich für
die Begegnung mit dem Hakim Hände und Füße im Wasser.
„Asalamu alaikum!“, grüßte Emily. Die
Patienten kannten sie schon und winkten freundlich zurück, denn die meisten
kamen jeden Freitagnachmittag in die kostenlose Armensprechstunde von Hakim bin
Abdul.
Sofort rannte ein Dutzend magerer Kinder zu Emily und umringte
sie. Sie griff in den Korb, den sie sich über den Arm gehängt hatte, holte
einen Stapel frisch gebackenen Fladenbrotes heraus und gab es den glücklich
strahlenden Kleinen.
„Lasst es euch schmecken!“, rief sie und lief
beschwingt von der Aussicht, gleich Sabri zu treffen, die Treppe in den ersten
Stock hinauf. Hier hatten Thomas und Sabri sich je ein Behandlungszimmer und
einen kleinen Krankensaal eingerichtet. Im zweiten Stockwerk lagen die
Wohnräume von Thomas. Einige Räume, für die die Freunde einen Operationssaal
nach europäischem Vorbild planten, standen noch leer.
Emily ging zu einer Tür, auf der in
arabischen Buchstaben das Wort „Ordination“ stand. Auf der Bank davor saß eine
alte, in einen schwarzen Umhang gehüllte Frau und schenkte ihr ein breites
zahnloses Lächeln.
„Asalamu alaikum, Fatma“, grüßte Emily. „Geht
es dir besser?“ Die Alte hatte an den Fußsohlen schmerzhafte Warzen gehabt, die
Sabri ihr herausgeschnitten hatte.
Fatma hob ihren Umhang an und zeigte stolz
ihren verbundenen Fuß. „Der junge Hakim ist ein guter Doktor. Sein Messer hat
besser gegen die Schmerzen in meinem Fuß geholfen als die Gebete von Sidi
Hicham.“
Sidi Hicham gehörte der Regraga-Bruderschaft
an, einem mystischen Orden, dem heilende, manchmal sogar magische Kräfte
zugeschrieben wurden. Viele Einwohner Mogadors glaubten an Sidi Hichams
besondere Fähigkeiten als Heiler und vertrauten seinen Gesängen und Gebeten
mehr als den Arzneien und Salben eines Hakims, der bei den Ungläubigen studiert
hatte.
„Doktor bin Abdul wird sich freuen, dass es
dir wieder so gut geht.“ Emily klopfte an die Tür.
Fatma zwinkerte pfiffig. „Ay, Miss Emily.
Aber er wird sich mehr freuen, Sie zu sehen!“
Emily errötete. Rasch drückte sie die Klinke
herunter und trat ein. Sabris
Sprechzimmer hatte schlichte weiß gekalkte Wände und war spärlich möbliert. Es
gab ein Regal, in dem sich mehrere verschlossene Gläser für Arzneien sowie
Körbe mit Skalpellen, Scheren, Glasspritzen und Verbandszeug befanden. Ein
ganzes Brett war für medizinische Fachbücher reserviert, angefangen mit dem
fünfbändigen Kanon der Medizin von Ibn Sina, dem größten Arzt der
orientalischen Heilkunde, über Hippokrates und Paracelsus bis hin zu Werken
über moderne Krankenpflege, Wundbehandlung und Geburtshilfe, die er aus England
mitgebracht hatte. Unter dem kleinen Fenster an der Stirnseite stand ein
Waschtisch mit Wasserkrug, Seife
Weitere Kostenlose Bücher