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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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„Merkst du eigentlich gar nicht, was hier vor sich geht? Deine
Mutter versucht, mir Selwyn und Charlotte wegzunehmen!“
    „Victoria, das würde mir nie in den Sinn
kommen“, versuchte Sibylla, sie zu beschwichtigen. Sie übergab Charlotte wieder
Nadira, die rasch mit beiden Kindern hinausging. „Ich wollte nur helfen. Wir…“
Sibyllas Handbewegung schloss alle Anwesenden ein. „…sind doch eine Familie,
die zusammenhält.“
    „Eine Familie mit einem finsteren
Geheimnis!“, rutschte es Victoria heraus.
    „Victoria, ich glaube, es reicht jetzt!“,
ging John dazwischen.
    Thomas, der die Szene genau wie Emily
entgeistert beobachtet hatte, sagte laut: „Jetzt schuldest du uns allen eine
Erklärung.“
    „Victoria hat es nicht so gemeint“, warf Sibylla
rasch ein. Sie war blass und umklammerte den Griff ihrer Teetasse so sehr, dass
ihre Fingerknöchel hervortraten.
    Victoria musterte sie mit einem leisen Gefühl
des Triumphes. Ihr Zorn war so groß, dass sie Sara Willshires Enthüllungen
einfach nicht länger für sich behalten konnte. Sollten Thomas, John und Emily
ruhig erfahren, was für eine Frau ihre Mutter wirklich war!
    „Bekommt ihr drei eigentlich gar nicht mit,
was die Leute in Mogador sich erzählen?“, wandte sie sich erregt an die
Geschwister. „Nun, ich kenne die Wahrheit. Ehrbare Leute, deren Wort man
vertrauen kann, haben sie mir erzählt. Ich spreche von eurer Mutter und von
deinem Vater, Emily.“
    „Die Toten sollen in Frieden ruhen“,
entgegnete Sibylla tonlos.
    Aber Victoria ließ sich nicht bremsen. „Oh,
es geht hier keineswegs um Mr. Hopkins, sondern um den Franzosen Monsieur
Rouston. Er ist doch Emilys Vater, nicht wahr, Mutter?“
    Ungläubige Stille herrschte im Raum.
    „Wer behauptet das?“, fragte Sibylla
schließlich mit brüchiger Stimme.
    „Die Gattin von Konsul Willshire! Aber
offensichtlich war dieser Skandal allen dort versammelten Damen gut bekannt“,
erwiderte Victoria hocherhobenen Hauptes.
    John packte seine Frau am Handgelenk und
zerrte sie vom Sofa hoch. „Wie kannst du es wagen!“
    „Lass sie!“ Emilys Stimme zitterte. „Ich will
alles wissen, Victoria!“
    Sibylla stand auf. „Du solltest zu Bett
gehen, Emily. Du siehst müde aus. Es ist spät. Wir alle sind müde.“
    „Bitte rede nicht mit mir, als wäre ich ein
kleines Kind!“, erwiderte Emily angespannt. „Ich will die Wahrheit wissen,
entweder von ihr“, sie blickte zu Victoria „oder von dir, Mutter.“
    „Das ist keine gute Idee“, antwortete
Sibylla. Ihr Gesicht wirkte wie versteinert.
    Thomas meldete sich zu Wort. „Victoria hat
einen schweren Vorwurf gegen dich geäußert, Mutter, und damit gegen die ganze
Familie. Wir haben ein Recht, die Wahrheit zu erfahren, besonders Emily.“
    Sibylla schloss die Augen. Dass die
Vergangenheit sie nach so vielen Jahren einholte, noch dazu in Gestalt ihrer
eigenen Schwiegertochter, hätte sie sich nicht träumen lassen. Plötzlich waren
die Ereignisse von damals wieder ganz nah. Der vernichtende Schmerz, als sie
entdeckt hatte, dass André sie mit der Berberfrau betrogen hatte, der
Schrecken, als sie wusste, dass sie sein Kind erwartete, und die bitter
enttäuschte Hoffnung auf eine glückliche Zukunft mit dem Mann, den sie so sehr
geliebt hatte.
    Victoria schlug das Herz bis zum Hals. Ihr
Ausbruch hatte hohe Wellen geschlagen, aber sie konnte ihre Worte nicht mehr
zurücknehmen, und wer weiß – vielleicht war es sogar gut, dass die Wahrheit nun
endlich ans Licht kam. Vielleicht würde John so enttäuscht von seiner Mutter
sein, dass er Mogador verließ und mit ihr und den Kindern nach England
zurückkehrte. Bei dieser Vorstellung kamen ihr fast die Tränen. Selwyns Lunge
war auch wieder gesund. Sie hatten nichts mehr in diesem schrecklichen Land
verloren! Vorsichtig schaute sie zu John, doch er erwiderte ihren Blick so
zornig, dass sie erschrocken die Augen niederschlug.
    Sibylla versuchte, sich zu sammeln. Sie war
verzweifelt, aber sie hatte keine Wahl – sie musste ihrer Tochter und ihren
Söhnen die Wahrheit gestehen. Nacheinander blickte sie Thomas, John und Emily
an. „Was Victoria gesagt hat, ist wahr, Emily. André Rouston ist dein Vater.“
    Sekundenlang schienen alle wie erstarrt. Dann
keuchte Emily erstickt.
    „Ich wollte nicht, dass du es so erfährst“,
setztete Sibylla leise nach.
    „Ich nehme an, du wolltest überhaupt nicht,
dass ich es erfahre!“ Emilys Feindseligkeit schnitt Sibylla ins Herz.
    „Ich habe mir so sehr

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