Die Loewin von Mogador
und zeichnen kannst.“
Sie verzog den Mund. „Wird das eine
Standpauke?“
Er lachte. „Vielleicht. Ich will eben, dass
du aus deiner Gabe etwas machst. Vergeude sie nicht!“
„Ich habe mich auf London gefreut“, räumte
Emily zögernd ein. „Nicht nur auf die Akademie, sondern auch darauf, den Rest
meiner Familie kennenzulernen. Meine Brüder und Victoria haben mir so viel vom
Leben dort berichtet – ich glaube, es ist ganz anders als hier. Aber ich darf
nicht wie John und Thomas allein reisen. Mutter würde mich begleiten, und das-“
„Ich bestehe ebenfalls darauf, dass eine
junge Dame auf keinen Fall allein zwischen zwei Kontinenten herumreist“,
unterbrach André sie. „Dir bleibt also nichts anderes übrig, als dich mit
deiner Mutter zu versöhnen. Warum gibst du mir nicht einen Brief für sie mit, wenn
ich das nächste Mal nach Mogador muss?“ Er zwinkerte Emily aufmunternd zu, aber
sie schlug die Augen nieder und schwieg.
„Willst du deiner Mutter denn bis in alle
Ewigkeit böse sein?“, fragte er sanft. „Jedes Mal, wenn ich in Mogador bin,
fragt sie nach dir. Sie vermisst dich.“
„Ich vermisse sie auch“, bekannte Emily
zögernd. „Ich will Mutter gewiss nicht für immer böse sein. Aber wäre nicht
Victoria gewesen, würde sie mir heute noch verschweigen, dass du mein Vater
bist! Sie hat mich betrogen und dich auch und hat uns so viele Jahre
voneinander ferngehalten!“ Emily zog einen wütenden Strich quer durch ihre
Zeichnung. Dann warf sie den Stein weg.
„Das stimmt nicht ganz“, wandte André ein.
„Ich habe dich oft gesehen, wenn ich in Mogador war. Zu deinen Geburtstagen
habe ich dir Geschenke mitgebracht.“
„Das ist nicht dasselbe“, erwiderte Emily
störrisch und sah ihn misstrauisch von der Seite an.
Scherzhaft hob er die Hände, als würde sie
eine Waffe auf ihn richten, und sie mussten beide lachen.
„Ich verstehe, dass du noch ein bisschen Zeit
brauchst, um deiner Mutter zu verzeihen“, sagte er schließlich. „Sie hat dich
belogen. Aber du solltest nie vergessen, dass sie keine andere Wahl hatte. Was
hättest du denn an ihrer Stelle getan?“
„Ich weiß es nicht“, murmelte Emily.
André legte einen Arm um ihre Schultern.
„Einsicht ist zumindest schon ein Anfang.“
Sie drückte sich an ihn. „Vater?“
„Ja?“
„Hast du Mutter geliebt?“
Er räusperte sich. „Das habe ich.“
Emily dachte an Aynur, die andere Frau im
Leben ihres Vaters, und an Malika, ihre Schwester, die nur fünf Wochen jünger
war als sie selbst.
„Und warum hast du Aynur…?“, begann sie
zögernd. Dann verließ sie der Mut.
Auch ihr Vater schwieg. Sein Gesicht
verschloss sich, seine Augen starrten blicklos in eine lange zurückliegende
Zeit, die sie nicht kannte. Sie bereute, dass sie überhaupt an diese Dinge
gerührt hatte.
„Bitte sei nicht böse, Vater! Es geht mich ja
nichts an“, sagte sie kleinlaut.
Er schüttelte sich, als wollte er sich von
den quälenden Erinnerungen befreien. „Wie könnte ich dir böse sein, ma petite –
du kannst doch nichts dafür! Was deine Mutter und mich und Aynur betrifft – die
Araber würden sagen, lass das Wasser dorthin fließen, wo es hingehört. Aber das
ist zu einfach. In Wahrheit sind Dinge passiert, an denen wir alle unseren Teil
der Schuld tragen.“
Kapitel
siebenundzwanzig - Mogador im Oktober 1861
Firyal träumte, dass sie Couscous
aß. Sie hatte die Schale fast
geleert, der Löffel schabte über den tönernen Boden, aber sie war noch längst
nicht satt und kratzte hungrig die letzten Krümel zusammen, hobelte und
scharrte immer ungeduldiger, bis sie schließlich von ihrem eigenen Lärm wach
wurde.
Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu
begreifen, dass sie geträumt hatte. Dann wurde ihr klar, dass das Schaben und
Schrappen nicht aufhörte! Verwirrt setzte sie sich im Bett auf und lauschte.
Doch sie täuschte sich nicht. Die leisen beharrlichen Geräusche drangen ganz
deutlich an ihr Ohr. Sie kamen vom Innenhof, aber wer oder was mochte das
mitten in der Nacht sein? Vorsichtig glitt sie aus dem Bett, schlich auf
Zehenspitzen zur Tür und spähte durch den Spalt, den sie immer zwei Fingerbreit
offen stehen ließ, damit die frische Nachtluft in ihre Kammer flutete.
Hoch am Himmel stand der Mond, voll und rund,
sein silbriges Licht fiel in den Innenhof, auf die Blätter des Olivenbaumes,
die Kinderschaukel, die reglos an einem der stabilen Äste hing, und auf die
matt schimmernden Bronzebänder der
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