Die Loewin von Mogador
mächtigen
Wehrtürmen und dem massiven Tor auch von hier oben wuchtig und uneinnehmbar
wirkte. Der eine der beiden Türme war nur mittels einziehbarer Leitern, über
die man zu den hochgelegenen Türöffnungen klettern musste, erreichbar. André
hatte ihr gezeigt, dass in den Kammern Schlafmatten, Fackeln, Wasser und
Vorräte für mehrere Tage lagerten. Außerdem hatte er im Turm in einer
verschlossenen Truhe hinter Getreidesäcken und zusammengerollten Teppichen
seine Safranvorräte versteckt. Sollten Angreifer das Tor überwinden, fanden die
Bewohner des Gutes im Wehrturm einen schwer einnehmbaren Schutzraum.
Rings um Qasr el Bahia breiteten sich die
Terrassenfelder aus, teils braunrot, wo noch die Safranknollen in der Erde
ruhten, teils golden, wo schon die reife Gerste auf dem Halm stand. Dazwischen
verteilten sich die grünen Tupfer von Orangen- und Zitronen-, Granatapfel- und
Olivenbäumen. Im Osten erkannte Emily das neue Feld, nur handtuchgroß aus der
Entfernung. Die mit den Rodungsarbeiten beschäftigten Männer bewegten sich wie
winzige Ameisen kreuz und quer.
„Ich hatte Angst“, gestand Emily.
André, der gerade die Pferde an einem
Jujubebaum festgebunden hatte, drehte sich um. „Vor diesen grünen Jungs? Die
kenne ich fast alle von Geburt an. Ihren Anführer habe ich bereits an meinem
ersten Tag auf dem Gut in seine Schranken gewiesen. Ich habe keine Angst vor
ihnen, und du musst auch keine haben.“
„Ich hatte nicht vor ihnen Angst, Vater,
sondern um dich, um meinen Bruder und alle anderen.“
Er ging zu ihr und schloss sie in seine Arme.
Sie schmiegte sich an ihn, und er führte sie zu einem sonnenbeschienenen
Flecken Erde. „Hier können wir sitzen und reden“, schlug er vor und fegte mit
der Stiefelspitze ein paar Steine beiseite. „Wir leben zwar schon ein halbes
Jahr unter einem Dach, aber wir haben noch viele Jahre nachzuholen, n’est-ce
pas?“
Sie ließen sich auf dem warmen trockenen
Boden nieder. Er hatte zwei Orangen aus seiner Satteltasche geholt, pellte sie
und reichte ihr eine. „Gefällt es dir noch auf Qasr el Bahia, oder hast du
schon Heimweh nach Mogador?“ Er sah sie aufmerksam an.
Emilys erster – sehnsuchtsvoller – Gedanke
galt Sabri, ihr zweiter – trauriger – ihrer Mutter. Sie runzelte die Stirn,
genau wie Sibylla es immer machte. „Nein, ich habe kein Heimweh. Ich möchte
gerne noch bei dir bleiben.“
„Das zu hören freut mich. Du kannst natürlich
bleiben, solange du willst.“ Er schob sich einen Orangenschnitz in den Mund und
kaute.
Emily legte den Kopf in den Nacken und
schaute zu einem Falkenpaar, das hoch über ihnen am Himmel kreiste. Ob Sabri
noch an sie dachte? Ob er sie vermisste? Es war so lange her, seit sie sich zum
letzten Mal gesehen hatten, dass ihr die Begegnung schon ganz unwirklich
erschien. Sie unterdrückte ein Seufzen. Etwas entfernt von ihr lag ein
faustgroßer Stein mit einer spitzen Kante. Sie nahm ihn und ritzte mit wenigen
Strichen ein Bild des Falkenpaares in den Boden. Dann skizzierte sie die
Pferde, die friedlich unter dem Jujubebaum standen und ab und zu mit dem
Schweif ein paar Fliegen vertrieben. Und schließlich, als hätte sich ihre Hand
selbständig gemacht, entstanden Sabris Augen im Staub, wie sie Emily bei ihrer
Begegnung im Maristan angesehen hatten: Warm und liebevoll.
„Wer ist das?“ André hatte sich vorgebeugt
und betrachtete die Zeichnung neugierig.
„Niemand.“ Sie verwischte das Bild hastig mit
der Handfläche.
„Ist das ein junger Mann, in den du dich
verliebt hast?“, bohrte er weiter. „Weiß deine Mutter von ihm?“
Sie zögerte und schüttelte dann den Kopf.
„Sei nicht böse, Vater, aber ich möchte darüber nicht reden.“
Er wechselte das Thema. „Du hast viel gemalt,
seit du hier bist. Ich freue mich sehr, dass es nun so schöne Bilder von Qasr
el Bahia gibt. Sie werden noch von unserem Leben hier erzählen, wenn es dich
und mich schon lange nicht mehr gibt. Deshalb wäre es sehr schade, wenn du
deinen Studienplatz an der Royal Academy of Arts aufgibst. Bedenke, dass es
nicht viele Frauen gibt, die für gut genug befunden werden, um an dieser
angesehenen Akademie zu studieren.“
Emily schwieg und kratzte mit dem Stein ein
Schlangenlinienmuster in den Erdboden.
André fuhr fort: „Ich habe in meinem Leben
gewiss nicht viel Kunst oder berühmte Gemälde gesehen, aber ich bin dein Vater
und kenne dich lange genug, um zu wissen, dass du nicht glücklich bist, wenn du
nicht malen
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