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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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geweint, besonders André junior. Aber sie hatten auch gespürt,
dass ihre Mutter schon nicht mehr ganz bei ihnen war, sondern unterwegs zu
einem Ort, an den sie sie nicht begleiten konnten.
    Jetzt harrte nur noch André bei Aynur aus. Er
betrachtete sie, wie sie ruhig auf dem Rücken lag. Ihr Brustkorb hob und senkte
sich schwach unter der Decke, die er über sie gebreitet hatte. Ihr Kopf lag in
seinem Schoß. Er streichelte ihre Wangen, ihre Stirn, ihre Augenlider. Ihre
Haut fühlte sich kalt an, aber ihre Gesichtszüge waren entspannt und friedlich.
Dann legte er seine Hand an ihre Lippen und spürte, wie ihr Atem immer
schwächer wurde. Als er nur noch einem Hauch gleichkam, begann André, obwohl er
schon lange nicht mehr an einen Gott glaubte, leise zu beten: „Vater unser, der
du bist im Himmel…“ Und als er beim Amen angelangt war, seufzte Aynur und
starb.

Kapitel
einunddreißig - Mogador im Dezember 1861
     
    Konsul Willshire klappte seine Bibel zu und
erhob sich. „Liebe Landsleute und Freunde, ich wünsche Ihnen einen gesegneten
zweiten Advent. Auf Wiedersehen bis zum nächsten Sonntag.“
    „Advent unter Palmen“, seufzte Victoria in
das allgemeine Stühlescharren und fasste die kleine Charlotte an der Hand. „Ich
würde so gern wieder einmal einen Winter mit Schnee und einen Gottesdienst in
einer richtigen Kirche erleben!“
    „Ich weiß gar nicht, was du schon wieder zu
klagen hast“, gab John zurück, während er sich zu Selwyn bückte und ihn auf den
Arm nahm. „Ich feiere lieber im Dezember in Marokko unter freiem Himmel
Andacht, als in England in einer kalten zugigen Kirche beim Gottesdienst zu
frieren!“
    Konsul Willshire und seine Gattin hielten die
Andachten in ihrem Garten unter freiem Himmel ab, zwischen blühenden
Orangenbäumen und duftendem Oleander. Der Sultan von Marokko duldete zwar, dass
die Christen in seinem Land ihre Religion ausübten, doch es musste diskret
geschehen. Gottesdienste, die Priester in Kirchen abhielten, erlaubte er nicht.
    Victoria und John schlenderten langsam zum
Ausgang. Direkt vor ihnen verabschiedeten Sibylla und Emily sich vom Konsul und
seiner Frau. Emily trug die bunt bestickte Jacke von Malika und einen weiten
Rock, der ihre Waden nur knapp bedeckte. Ihre Beine steckten in weichen
Lederstiefeln, und an ihren Handgelenken klimperten zahllose Silberreife.
Zwischen den Engländerinnen in ihren geschnürten schwarzen Feiertagskleidern
und steifen Hüten wirkte sie wie ein fröhlicher bunter Vogel und erregte
entsprechend Aufmerksamkeit. Victoria hörte, wie neben ihr eine Kaufmannsfrau
einer anderen zuflüsterte: „Seit sie von Qasr el Bahia zurück ist, kleidet sie
sich wie eine Berberin. Höchst unpassend, besonders am heiligen Sonntag!“
    „Schauen Sie sich doch die Mutter an!“,
wisperte die andere hinter vorgehaltener Hand zurück. „Der Apfel fällt nicht
weit vom Stamm, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
    „Durchaus meine Liebe, durchaus.“ Beide
beäugten Sibylla, die eine violette Seidenhose, ein langes seidenes Hemd und
einen bestickten Schal um die Schultern trug, mit einer Mischung aus Abneigung
und Faszination.
    Victoria schaute zu John, doch er scherzte
gerade mit Selwyn und hatte den Wortwechsel nicht gehört. Sie überlegte, wie
sie sich verhalten sollte. Im Grunde ihres Herzens teilte sie die Meinung der
beiden Kaufmannsfrauen. In letzter Zeit jedoch hatte sich ihr Verhältnis zu
Sibylla entspannt, und es störte sie, wenn Außenstehende sich unfreundlich über
ihre Schwiegermutter oder Emily äußerten.
    Sie räusperte sich: „Gewiss habe ich mich
verhört, meine Damen, oder haben Sie wirklich gerade abschätzig über zwei
Mitglieder meiner Familie geredet?“
    Die Frauen starrten sie unsicher an.
    „Sie dürfen sich glücklich schätzen, dass
mein Ehemann Sie nicht gehört hat“, fuhr Victoria unerbittlich fort. „Er würde
es nicht dulden, wenn seine Mutter und seine Schwester beleidigt werden. Um die
guten Geschäftsbeziehungen zwischen der Familie Hopkins und Ihren Gatten nicht
zu gefährden, bin ich bereit, diesen Vorfall zu vergessen – vorausgesetzt, mir
kommen keine weiteren Respektlosigkeiten zu Ohren.“ Victoria nickte leutselig,
als sie plötzlich Sibyllas Blick bemerkte. „Gut gemacht! Danke!“, formten ihre
Lippen lautlos. Sie nickte ihr lächelnd zu und ging dann weiter. Victoria
errötete. Seit sie in der Familie Hopkins mit ihrer Offenbarung über Emilys
wirklichen Vater für so viel Unfrieden gesorgt

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