Die Loewin von Mogador
hatte, verging kaum ein Tag, an
dem sie ihren Ausbruch nicht bereute. Jetzt hatte sie ein klein wenig
wiedergutgemacht, und das erfüllte sie mit Freude und Stolz.
Sibylla verabschiedete sich inzwischen von
Sara Willshire. „Es war eine schöne Andacht“, sagte sie, und Sara erwiderte
eifrig: „Ich freue mich aufrichtig, dass Sie unser kleines Beisammensein nun
wieder regelmäßig besuchen. Vielleicht darf ich Sie ja auch bald wieder bei
unseren Teenachmittagen begrüßen, und Emily natürlich auch.“
Was man in Mogador insgeheim schon immer
gewusst hatte, war nun ein offenes Geheimnis: Nicht Benjamin Hopkins, sondern
André Rouston war Emilys Vater. Aber niemand regte sich noch sonderlich über
einen zwanzig Jahre zurückliegenden Skandal auf. Emily war in Mogador beliebt,
und jeder sah, dass ihre Familie schützend zu ihr stand. Außerdem handelte es
sich bei Rouston um einen angesehenen Mann, der im Gegensatz zu Benjamin
Hopkins nie in undurchsichtige Geschäfte verwickelt gewesen war.
„Danke für die Einladung. Vielleicht kommen
wir bald“, erwiderte Sibylla freundlich. „Auf Wiedersehen, Sara.“
Sie traten zu John auf die Straße, der gerade
Selwyn damit erfreute, wie er sich mit großer Geste den Bauch rieb: „Wir beide
haben Hunger, nicht wahr, und freuen uns auf einen köstlichen Lammbraten!“
Sein Sohn nickte und imitierte die Geste
kichernd.
„Geht ihr schon nach Hause“, bat Sibylla. „Ich
muss noch eine Mappe aus meinem Büro am Hafen holen, die ich heute Nachmittag
durchsehen möchte.“
„Ich begleite dich, Mutter. Ich habe Lust auf
einen Spaziergang.“ Emily hakte sich bei Sibylla unter.
„Beeilt euch!“, rief John ihnen hinterher.
„Ich möchte nicht zu lange auf mein Essen warten!“
Am Hafen wehte ein stürmischer Wind vom Meer
herein, vertrieb die letzten Wolkenfetzen vom strahlend blauen Himmel und
wirbelte Emilys Locken durcheinander.
Heute können keine Schiffe einlaufen, dachte
Sibylla und hielt ihren Schal fest. Am Morgen hatte John ihr wieder einmal
erklärt, dass es Tage wie diese im windigen Mogador viel zu oft gäbe und Verzögerungen
im Frachtverkehr zur Folge hätten, die die Kaufleute und Reeder viel Geld
kosteten.
„In Tanger würde uns das nicht passieren.
Dort ist es weder so oft stürmisch noch so oft neblig, und der Hafen dort wird
Pazifik und Atlantik verbinden, wenn der Sueskanal erst eröffnet ist“, hatte er
betont.
Vielleicht hat er doch recht, überlegte Sibylla.
Der Hafen von Mogador ist wirklich zu klein für moderne Schiffe, besonders wenn
die Zukunft der Seefahrt tatsächlich in den Dampfschiffen liegt. Obendrein
kamen immer weniger Karawanen aus Zentralafrika nach Mogador. Sie zogen von
Marrakesch direkt nach Rabat, Casablanca und Tanger weiter.
Sie blickte zur Hafeneinfahrt, wo sich die
Wogen weiß schäumend an den scharfen Felsnadeln brachen. Was wurde aus ihr,
wenn John die Geschäfte nach Tanger verlegte? Ihre Kinder waren erwachsen und
führten ihr eigenes Leben. Bliebe sie allein in Mogador, würde nicht einmal
mehr die Arbeit für die Reederei ihre Tage füllen.
Und in Tanger bist du weit weg von André,
flüsterte eine innere Stimme ihr zu. Am liebsten hätte Sibylla sie
beiseitegeschoben. Doch seit ihrer Rückkehr von Qasr el Bahia ging Seltsames
mit ihr vor. Sie hatte die zerlesene Ausgabe ihrer Erzählungen aus 1001 Nacht,
die sie nach dem Zerwürfnis mit André unter einem Berg alter Akten vergraben
hatte, wieder hervorgekramt. Wenn sie abends allein in ihrem Bett lag,
blätterte sie verstohlen durch die Geschichten und stellte fest, dass sie heute
genau wie vor mehr als zwanzig Jahren verwirrende Phantasien in ihr weckten. Rauschhafte
Bilder von Lust und Vereinigung, die sie bis in den Schlaf verfolgten und ihr
am Morgen die Schamesröte ins Gesicht trieben. Dann nahm sie sich vor, das Buch
wegzupacken, irgendwohin, wo sie es nicht vor Augen hatte. Aber am Abend las
sie wieder darin, gierig und mit heißen Wangen, wie ein Trinker, der seine
Sucht nach Schnaps befriedigen musste.
Sibylla seufzte und blickte zu den
Fischerbooten, die wegen des Sturms fest vertäut an der Mole schaukelten.
Einige Fischer nutzten die Zeit, um ihre Netze auszubessern, anderen
reparierten ihre Boote. Der Rest stand zusammen, rauchte Wasserpfeife und
klagte zum Allmächtigen, dem es gefiel, ehrbaren Fischern, die ihrem Beruf
nachgehen wollten, dieses Wetter zu senden.
„Die Leute dort draußen tun mir leid“, rief
Emily gegen das Fauchen
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