Die Loewin von Mogador
erstaunt an.
„Sie kennen sich aus, Monsieur Rouston?“
Er atmete tief durch. „Im Algerienkrieg habe
ich reichlich Bekanntschaft mit dem teuflischen Wundstarrkrampf gemacht. Also,
meine Herren, was sagen Sie?“
Thomas räusperte sich. „Ich fürchte, es ist
zu spät für eine Amputation. Ich hatte es Ihrer Frau vorgeschlagen, aber sie
wollte es nicht. Jetzt haben sich die giftigen Säfte in ihrem ganzen Körper
ausgebreitet.“
„Davon abgesehen ist die Patientin
geschwächt. Es besteht eine große Gefahr, dass sie eine solche Operation nicht
überlebt“, gab Sabri zu bedenken.
André senkte den Kopf. Der Kloß in seiner
Kehle war so dick, dass es ihn schmerzte. Doch das war mit Sicherheit nichts
gegen die Schmerzen, die Aynur aushalten musste. „Wie viel Zeit bleibt meiner
Frau noch?“, brachte er mühsam hervor.
„Ein Tag, höchstens zwei“, antwortete Thomas,
und Sabri nickte.
André dachte an die Bitte, die Aynur ihm von
ihrem Krankenlager aus gesandt hatte. Es war die letzte Bitte einer Sterbenden,
und er würde ihr nachkommen, so schwer ihm das auch fiel. Nacheinander blickte
er beide Ärzte an: „Ich weiß, wie diese Krankheit verläuft, und habe gesehen,
wie man daran stirbt. Aber Aynur wird nicht so sterben. Die Krämpfe werden ihr
nicht die Knochen brechen. Sie wird nicht voller Angst und Entsetzen an ihren
Lähmungen ersticken, weil niemand ihr in ihrer Qual hilft! Meine Frau soll in
Würde und ohne Schmerzen von dieser Welt gehen. Das war ihr letzter Wunsch, und
ich werde dafür sorgen, dass er erfüllt wird. Meine Frage an Sie, Doktor Hopkins,
und Sie, Doktor bin Abdul, lautet: Darf meine Frau auch auf Ihre Hilfe zählen?“
Angespannte Stille hing zwischen den drei
Männern. Thomas und Sabri wechselten einen raschen Blick. In Thomas‘ Kopf
überschlugen sich die Gedanken. „Ich werde niemandem ein tödliches Gift geben,
auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, und ich werde auch niemanden dabei
beraten.“ So hatten er und Sabri einst nach dem Eid des Hippokrates gelobt, dem
heiligen Schwur der Ärzte, dem Leben zu dienen, nicht dem Tod. Für Thomas hatte
dieser Moment den feierlichen Höhepunkt seiner Ausbildung dargestellt, und er
nahm den Eid sehr ernst. Als Arzt in den Slums von London hatte er viel Elend
gesehen. Er kannte den grausamen Tod am Wundstarrkrampf aus eigener Anschauung.
Manchmal hatte er sich dabei ertappt, wie er mit Gott und sich selbst haderte,
weil ein Mensch langsam und qualvoll sterben musste, besonders wenn Kinder
betroffen waren. Aber bis jetzt hatte er noch nie gewagt, dem Herrn über Leben
und Tod ins Handwerk zu pfuschen.
„Ich weiß, was ich von Ihnen verlange.“
Andrés Stimme zerschnitt die Stille. „Aber meiner Frau ist der Tod gewiss, und
Sie verlangen weit mehr von ihr als ich von Ihnen, wenn Sie ihr einen
friedlichen Tod versagen.“
Angespannt sah Thomas zu Sabri. „Ich finde,
sie sollte ohne Qualen sterben dürfen, was denkst du, mein Freund?“
Wenn einer der Zeuge des anderen wurde, wie
er einem Patienten zu jenem friedlichen Tod verhalf, mussten sie sich einig
sein. Sie mussten für den Rest ihres Lebens darüber schweigen und durften nie
wieder davon sprechen.
Sabri hielt Thomas‘ Blick fest. Dann sagte er
leise: „A min, so sei es! “
Thomas fühlte tiefe Traurigkeit, weil er
Roustons Frau mit all seiner ärztlichen Kunst nicht hatte helfen können. Er
räusperte sich: „Ich habe Belladonna-Extrakt und Laudanum-Tinktur. Beide Mittel
lösen Krämpfe und lindern Schmerzen, aber es sind, wie so viele Arzneien,
Gifte. Letztlich hängt es von der Dosierung ab, wie sie wirken – wenn Sie
verstehen, was ich meine.“
André nickte stumm.
Thomas atmete tief durch. „Kommen Sie in
einer Stunde in mein Zimmer, dann gebe ich Ihnen ein Fläschchen. Den Inhalt
flößen Sie Ihrer Frau mit einem Löffel ein. Wichtig ist, dass Sie ihr alles
geben, damit es“, er zögerte, „wirkt.“
„Ich danke Ihnen beiden.“ Andrés Stimme klang
rauh. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich werde jetzt mit
den Kindern sprechen und sie auf den Abschied von ihrer Mutter vorbereiten.
Dann komme ich zu Ihnen, Doktor Hopkins.“
Die Sonne versank orange glühend hinter den
westlichen Hügelketten, als Aynur starb. Schmale Lichtbündel fielen durch die
geschlossenen Fensterläden des Krankenzimmers und tauchten ihr wächsernes
Gesicht in einen warmen Schimmer.
Kurz zuvor waren ihre Kinder bei ihr gewesen.
Sie hatten sehr
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