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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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rätselhaftes Poltern und Rauschen.
    „Gibt es hier unterirdische Bäche?“, fragte
sie.
    „So ähnlich“, erklärte Sara. „Das sind
Rhetaras, Kanäle, die die Einheimischen waagerecht in den Berg treiben, bis sie
auf Grundwasser treffen. Dieses Wasser wird auf die Felder und sogar bis nach
Marrakesch geleitet.“
    Zwei Stunden später ritten Sibylla, Benjamin,
die Willshires, Nadira und der Kaid mit seinem Gefolge durch das Bab Doukkala,
ein im Nordwesten gelegenes Stadttor von Marrakesch. Samuel Toledano blieb mit
der Karawane vor dem Tor, um das Abladen der Waren zu beaufsichtigen. Zypressen
und Dattelpalmen überragten die Mauer. Sibylla war von dem mit Zinnen und
massiven Basteien bewehrten gut vierundzwanzig Fuß hohen und endlos lang
erscheinenden Bauwerk beeindruckt. Dann entdeckte sie direkt vor dem Tor einige
Stangen, die in den lehmigen Boden gerammt waren. Auf der Spitze der Stangen
saßen verschrumpelte braune Kugeln. Als sie vorbeiritten, stellte sie zu ihrem
Entsetzen fest, dass es sich um menschliche Köpfe handelte, die sie aus
blicklosen Augen mit entblößtem Gebiss anzugrinsen schienen. Sie merkte, dass
ihr übel wurde, und hielt sich rasch eine Hand vor den Mund.
    „Was hast du denn?“, fragte Benjamin, der
jetzt wieder neben ihr ritt.
    „Hast du das nicht gesehen – dort vor dem
Stadttor?“ Sibyllas Stimme klang dumpf, weil sie sich immer noch eine Hand vor
den Mund hielt.
    Benjamin kniff die Augen zusammen. „Ich
wusste immer, dass in diesem Land Sitten herrschen wie im finstersten
Mittelalter!“
    „Das sind die Köpfe hingerichteter
Verbrecher“, belehrte Konsul Willshire ihn. „Der Sultan lässt sie in Salz
konservieren und zur Abschreckung ausstellen.“
    „Was für ein barbarischer Brauch!“, keuchte
Sibylla.
    „Im Grunde ist er ein friedfertiger Mann“,
versicherte Willshire. „Aber er hat viele Neider, die ihn liebend gern vom
Thron stoßen würden. Die Alawiden mögen heilig sein, aber sie sind nicht
unantastbar. Die Köpfe dieser Hingerichteten warnen jeden, der versucht, gegen
seine Majestät eine Verschwörung anzuzetteln.“
    „Hat er auch schon Christen auf diese Weise
ausgestellt?“ Benjamins Stimme klang ein wenig dünn. Der Konsul beruhigte ihn:
„Ich denke, Sultan Abd Er Rahman würde ein saftiges Lösegeld einem ausgewachsenen
diplomatischen Konflikt mit europäischen Regierungen vorziehen. Er hat erlebt,
wie die Franzosen mit Algerien wegen ein paar offener Weizenrechnungen
umgesprungen sind. Für den Dey von Algier hat es im Exil geendet, und das will
Abd Er Rahman auf keinen Fall riskieren.“
    Hinter dem spitzen Bogentor aus rosa
Stampflehm führte eine breite Straße nach Südosten bis zu einer Moschee. Dort
bogen sie in die Gassen der nördlichen Medina ab. Gläubige kamen aus dem
Gotteshaus und schauten der Gruppe neugierig hinterher. Sibylla fiel auf, dass
die jüdischen Kaufleute, die sich noch bei ihnen befanden, eilig von ihren
Eseln glitten und die Pantoffeln auszogen, als sie die Moschee erreichten.
    „Anordnung vom Sultan“, flüsterte Sara ihr
zu. „So müssen die marokkanischen Juden ihren Respekt vor den wahren Gläubigen
bekunden. Aber für uns Christen gilt das nicht. Wir sind hier Ausländer und
dürfen die heilige Gastfreundschaft des Orients genießen.“
    Sibylla merkte, dass Europäer auch in dieser
großen Stadt eine Attraktion darstellten, besonders wenn sie von einem
arabischen Würdenträger und der Kavallerie des Sultans eskortiert wurden, und
sie war froh, dass ihr blondes Haar unter dem Schal verborgen blieb.
Währenddessen liefen aus den Gassen die Leute zusammen. Einige winkten
freundlich, andere lächelten schüchtern. Viele umringten sie nur stumm mit
undurchdringlichen Mienen, und manche machten beim Anblick der Ungläubigen
sogar das Zeichen gegen den bösen Blick. Sibylla fand, dass die Menschen mager
wirkten, ärmlich und schlecht gekleidet.
    „Täusche ich mich, oder hat die Königsstadt
des Südens ein Gutteil ihres Glanzes eingebüßt?“, fragte sie Sara so leise,
dass der in ihrer Nähe reitende Nuri bin Kalil es nicht hörte.
    Die Gattin des Konsuls nickte. „Vor einigen
Jahren wütete hier die Pest, und viele Menschen starben. Daraufhin brachen die
Pocken und die Cholera aus. Deshalb wirkt die Stadt ziemlich heruntergekommen.“
    Eine Gruppe von Kindern versuchte, sich an
Sibyllas Maultier zu drängen. Mager waren sie, in Lumpen gekleidet und
streckten ihre schmutzigen Hände aus: „Dschu, gute Dame,

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