Die Loewin von Mogador
Hunger!“
Sibylla wollte nach ihrer Börse suchen, aber
Nadira trieb ihren Esel zwischen sie und die kleinen Bettler. Gleich darauf war
auch Nuri bin Kalil zur Stelle und jagte sie mit wüsten Beschimpfungen davon.
„Nadira, wie kannst du so hart sein? Sie
hatten doch Hunger!“, empörte Sibylla sich.
„Wenn Sie ihnen Almosen geben, Herrin, sind
bald so viele da, dass Sie nicht mehr weiterreiten können. Sie hängen sich an
das Geschirr des Maultiers und lassen nicht eher von Ihnen ab, als bis sie Sie
abgenagt haben wie Ratten einen Kadaver!“
„Ich verstehe, dass du mich schützen
wolltest, aber es ist unchristlich, Hungernde zu verjagen, besonders Kinder“,
beharrte Sibylla.
„Der Islam verpflichtet die wahren Gläubigen
ebenfalls, Almosen zu geben, Mrs. Hopkins“, mischte Nuri bin Kalil sich ein.
„Doch er erwartet nicht, dass sich das Lamm den Löwen opfert.“
Sibylla schwieg. Aber sie schüttelte empört
den Kopf. Ihr Kind, das bald das Licht der Welt erblicken würde, und alle
weiteren, die Gott ihr hoffentlich noch schenkte, sollten nie um ihr Brot
betteln müssen!
Durch enge Gassen gelangte die Gruppe in das
Zentrum der Stadt. Die Reiter des Sultans trieben unbarmherzig jeden zur Seite,
der den Weg nicht sofort frei machte. Allzu bevölkert waren die Gassen ohnehin
nicht. Sibylla bemerkte verfallene Fassaden, sogar ganze Straßen schienen
verlassen. Von den kleinen Geschäften standen viele leer. Ratten und streunende
Hunde wühlten in dem Unrat, der sich vor den Hauseingängen häufte, und es roch
so übel, dass sie sich ihren Schal noch höher vor Mund und Nase zog.
Erst als sie in die Nähe der Souks kamen,
wurde die Stadt lebendiger. Hier herrschten lebhaftes Gedränge und
Stimmengewirr. Sklavenhändler zogen durch die Gassen, ihre mit Stricken
gefesselte „Ware“ hatten sie gleich dabei. Aus den Garküchen roch es nach
frisch gebackenem Brot und gebratenem Fleisch. Vom Souk der Metallschläger
erklang rhythmisches Klopfen, vor dem der Teppichhändler luden Berber zusammengerollte
Teppiche aus fest gewebter Schafwolle von ihren Eseln, und aus dem Souk der
Gewürzhändler stiegen Sibylla die Düfte von Zimt, Vanille und getrockneten
Nelken in die Nase.
Hinter den Märkten befanden sich die
Fondouks, die städtischen Herbergen. Dort kehrten auch die Reisenden aus
Mogador ein. Die Fondouks waren genauso gebaut wie die Karawansereien auf dem
Land. Allerdings gab es hier zusätzlich Werkstätten und Verkaufsräume, in denen
die Händler ihre Waren auslegen konnten.
„Hinter unserer Herberge befindet sich ein
großartiges Hamam“, erzählte Sara, als sie im Hof des Fondouk von ihren
Maultieren stiegen. „Es gehört zu einer Moschee mit Koranschule, aber das Hamam
steht allen offen. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, mich dort gründlich
vom Reisestaub zu reinigen. Für eine Audienz bei einem Souverän sollte man
immer sauber gewaschen sein, nicht wahr?“ Sie zwinkerte ihrer Freundin zu.
Sibylla seufzte. „Oh ja, ein ausgiebiges Bad
wäre jetzt mein sehnlichster Wunsch! Wir nehmen Nadira mit und lassen es uns
richtig gut gehen!“
Wenn sie während ihres viermonatigen
Aufenthalts in diesem Land etwas lieben gelernt hatte, dann war es das Hamam.
In England hatte sie eine Badewanne besessen, die im Schlafzimmer hinter einem
Wandschirm immer für sie bereitgestanden hatte. Doch Badewannen kannte man in
Marokko nicht. Wer sich reinigen wollte, ging ins öffentliche Bad. Der
Frauenbereich des Bades stellte außerdem den einzigen Ort – außer einem Harem –
dar, in dem Sibylla ihren arabischen Geschlechtsgenossinnen begegnete, die sich
hier hingebungsvoll der Schönheitspflege und dem Austausch von Neuigkeiten
widmeten. Bei ihrem ersten Besuch war sie noch gehemmt gewesen, weil sie nicht
wusste, was sie erwartete. Doch bald genoss sie die zwanglose, entspannte Atmosphäre
und hatte schon nach kurzer Zeit vergessen, dass sie nichts als ein Tuch um die
Hüften trug. Ihre Schwangerschaft war inzwischen deutlich sichtbar, aber an
diesem Ort war sie nicht die Einzige, die guter Hoffnung war, und alle Frauen,
ob schwanger oder nicht, freuten sich über ihren Zustand, erkundigten sich nach
ihrem Befinden und überschütteten sie mit Ratschlägen.
Benjamin fand Sibyllas Vorliebe für das Hamam
befremdlich. Er versuchte zwar nicht, sie davon abzuhalten, machte aber kein
Hehl aus seiner Abneigung und behauptete, dass nicht einmal der Teufel
persönlich ihn dazu bringen würde, mit
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