Die Loewin von Mogador
Strand.
Er ahnte, dass es pure Unvernunft war – aber
er wartete schon lange auf eine Gelegenheit, Sibylla Hopkins einmal ohne
Ehemann, Dienstboten oder ihre Freundin Mrs. Willshire zu treffen. Nun hatte le
bon Dieu ihm diese Gelegenheit geschenkt, und wer wusste schon, wann es ihm
beliebte, das wieder zu tun!
Kapitel
zehn
„Monsieur Rouston! Was für eine
Überraschung!“ Sibylla strich sich die zerzausten Haarsträhnen glatt, aber der
Wind wirbelte sie sofort wieder durcheinander. Entzückt registrierte er, dass
sie errötete und versuchte, ihre nackten Füße vor ihm im Sand zu verstecken.
Er hatte sie schon damals vor über drei
Jahren bemerkenswert gefunden, als sie in Marrakesch vor dem Sultan gestanden hatte.
Groß und schlank, hellhaarig und hellhäutig fiel sie in diesem Land auf wie ein
Regenbogen über der Wüste. Ihn jedoch fesselte besonders ihr Gesicht. Nur auf
den ersten Blick glich es einer zarten Rose. Wer sie genau betrachtete, so wie
er, bemerkte den eigensinnigen Zug um den Mund und ihre wachen klugen Augen.
Diese Frau interessierte sich für das, was um sie vorging, und wollte den Kern
der Dinge erfassen.
Er verstand sofort, warum man sie die Frau
mit dem Löwenhaar nannte – nicht wegen der Farbe des Haares, sondern wegen der
Willensstärke, die sie ausstrahlte. Was sonst hätte eine Hochschwangere bewegt,
die anstrengende Reise von Mogador nach Marrakesch anzutreten? Sein Freund Udad
bin Aziki, Scheich der Chiadma-Berber, hatte zwar versucht, seine Begeisterung
zu dämpfen und gewarnt: „Wo ein großer Schatz liegt, da wartet auch eine große
Schlange.“ Damit hatte er gemeint, dass Sibylla eine verheiratete Frau und
Mutter war, aber das trübte Andrés Faszination nicht.
Auch jetzt fühlte er wieder diese unsinnige
Freude, sie zu sehen.
„Bonjour, Madame Hopkins.“ Er streckte ihr
die Rechte hin. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber es sah aus, als würden
ein paar Jungs hier Rat und Hilfe brauchen.“ Er zwinkerte Tom zu, der sich
verlegen die Tränen aus dem Gesicht wischte.
„Ich fürchte, das stimmt“, bestätigte
Sibylla. „Benjamin hat den Kindern den Drachen gebaut, aber er will einfach
nicht fliegen. Und da er zu tun hat, kann ich ihn nicht fragen, woran es
liegt.“
John hatte Rouston ebenfalls entdeckt, ließ die
Schnur fallen und wackelte auf seinen kurzen Beinen neugierig näher. André
beugte sich zu den Kindern. „Ihr seid Tom und John, nicht wahr? Ich zeige euch
jetzt, was ihr tun müsst, damit euer Drachen fliegt, einverstanden?“ Die Brüder
nickten einträchtig.
„Bon alors, garçons!“, sagte André. „Alles
hört auf mein Kommando! John, du holst den Drachen. Tom und ich schneiden
inzwischen ein Stück von der Schnur ab, und ihr kleinen Haramie“, er wandte
sich an die Araberjungen, die das Geschehen neugierig verfolgten, „holt mir
einen Armvoll von dem Halfagras, das an der Festungsmauer wächst!“
Die Jungen flitzten eifrig los, Johnny
rannte, um den Drachen zu holen, und Tom durfte mit Andrés Hilfe mit dessen
scharfem Messer ein Stück Schnur durchtrennen.
Sibylla hatte inzwischen ihre Schuhe
angezogen und versuchte, mit den Fingern etwas Ordnung in ihr Haar zu bringen.
Dabei hörte sie, wie Rouston der Kindergruppe erklärte, wie man aus
Grasbüscheln, die man in regelmäßigen Abständen in einem Stück Schnur
verknotete, einen Drachenschwanz baute. In seiner schwarzen Jacke, dem langen,
mit einer Schärpe in der Taille gegürteten Hemd und den weiten Hosen, die in
ledernen Stiefeln steckten, sah er sehr gut aus und erinnerte sie ein wenig an
den osmanischen Offizier, den sie bei einer Einladung in Konsul Willshires Haus
getroffen hatte.
„Ein Drache braucht einen Drachenschwanz. Der
verhindert nämlich, dass er um die eigene Achse trudelt und abstürzt“, erklärte
André den Kindern. Er drehte den Drachen um, so dass das Kreuz, das Benjamin
aus dünnen Holzstäben gebaut hatte, oben lag, und verkürzte die daran
befestigte Schnur ein wenig.
„Die Schnur heißt Waageschnur, weil sie den
Drachen im Gleichgewicht hält“, fuhr er fort. „Jetzt müssen wir nur noch den
Schwanz an den Drachen knoten, und dann sollt ihr mal sehen, wie großartig er
fliegt! Bon!“ Er stand auf. „Versprecht ihr mir, dass ihr nicht streitet und
euch beim Halten der Schnur abwechselt?“
Die Jungen standen gerade wie die
Zinnsoldaten und nickten ernst. André reichte Tom die Leine, winkte einen der
Araberjungen heran und gab ihm den Drachen.
Weitere Kostenlose Bücher