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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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unbeeindruckt fest. „Oder haben Sie vergessen, dass
wir mit dem alten Juden verabredet sind? War übrigens eine verteufelte Tour.
Aber mehr dazu bei Toledano…“
     
    André Rouston legte beide Hände auf die
steinernen Mauerreste, die einst den Glockenturm einer kleinen Kirche gebildet
hatten, erbaut von Portugiesen, die hier vor dreihundert Jahren einen
Handelsposten gegründet hatten. Sie war längst verlassen, und ihre halb
verfallenen Mauern drückten sich an die Westbastion. Einst hatte man von dem
Lehmziegelboden in das Gebälk mit der Glocke geblickt. Doch Dachstuhl und
Glocke waren verschwunden, und André genoss den weiten Blick über den Atlantik.
Nach morgendlichem Dunst zerrissen am Nachmittag endlich die Wolkenschleier.
Weit im Südwesten wurde die fahlgoldene Dezembersonne sichtbar und überzog das
Wasser wie mit funkelndem Diamantstaub. Im Norden wechselte die Färbung der
Wellen von Tintenblau zu Steingrau. Auf den Wellen der Brandung tanzten weiße
Schaumkronen. Es war Ebbe, das Meer zog sich langsam zurück, legte die Wracks
von Fischerbooten frei, die auf den tückischen Felsnadeln vor der Hafeneinfahrt
auf Grund gelaufen waren, ließ Muscheln, Treibholz und einen immer breiter
werdenden welligen Abdruck auf dem nassen Sand zurück.
    Immer wenn André in Mogador zu tun hatte, kam
er an diesen Ort abseits des Hafens, der mit seinem Lärm und geschäftigen
Treiben hinter einer vorspringenden Landzunge lag. Er beobachtete zwei
Dreimaster, einen mit der rot-grünen Flagge Portugals am Heck, den anderen mit
der französischen Trikolore. Sie hatten die Landzunge umrundet und nahmen nun
mit geblähten Segeln Kurs aufs offene Meer.
    Wenn er hier oben auf der Ruine der alten
Kirche stand und dem Kreischen der Möwen, dem Raunen des Windes und dem ewigen
Rauschen des Wassers lauschte, stellte er sich vor, wie die Segler ihre Fracht
in jeden Winkel der Erde trugen, um dort die exotischen Waren ferner Länder an
Bord zu nehmen. Die Vorstellung, dass die Seefahrt die Kontinente der Welt
miteinander verband, faszinierte ihn. Vor Jahren, während seiner kurzen Zeit
als Matrose, hatte er das noch nicht so gesehen. Er hatte Brutalität erlebt,
Grausamkeit, bedrückende Enge und drakonische Strafen. Sobald sein Schiff den
Heimathafen in Nordfrankreich erreicht hatte, war er davongelaufen, zur Armee.
    Johlendes Kinderlachen ertönte unterhalb der
Mauern. Dann rief die vorwurfsvolle Stimme eines kleinen Jungen auf Englisch:
„Mummy, du machst alles falsch! Er fällt immer runter!“
    André beugte sich neugierig über die
Brüstung. Direkt unter ihm hüpfte ein halbes Dutzend Araberjungen auf und ab
und schrie etwas von dummen Ungläubigen. Etwas entfernt standen zwei kleine
blond gelockte Jungen im Sand. Der jüngere tanzte aufgeregt um den älteren und
versuchte vergeblich, eine Schnur zu erhaschen, die dieser umklammerte. Am
entgegengesetzten Ende der Schnur war ein rautenförmiger Drache aus rotem und
gelbem Pergamentpapier befestigt, den eine Frau in der Hand hielt.
    Freude durchzuckte André, als er sie
erkannte. Der Wind hatte goldblonde Strähnen aus ihrem langen geflochtenen Zopf
gerissen und spielte mit dem Saum ihres Kaftans. Sie sprang in die Höhe und
warf den Drachen empor, und er registrierte grinsend ihre nackten Füße. Der
Papierdrache trudelte ein paar Sekunden hilflos in der Luft, sackte dann ab und
stürzte zu Boden, begleitet von johlenden Pfiffen der Araberjungen.
    „Neeeiiin, Mummy!“ Tom ließ sich entmutigt in
den Sand fallen und schlug seine Hände vors Gesicht. Der kleine John nutzte die
Gelegenheit und schnappte sich die Schnur. Sibylla hob entnervt die Arme und
lief zu ihren Kindern.
    Andrés Blick wanderte von dem Drachen zu der
Frau. Sie kniete vor ihrem verzweifelten Sohn im Sand und versuchte, seine
Tränen mit einem Taschentuch zu trocknen. Aber Tom verschränkte beide Arme vor
dem Körper und drehte seiner Mutter den Rücken zu. Offensichtlich gab er ihr
die Schuld, dass der Drache nicht flog.
    André hatte längst erfasst, wo das Problem
lag. Nicht umsonst hatte er, der Bauernsohn aus den südfranzösischen Causses,
während seiner Kindheit zahllose selbst gebaute Drachen auf den windigen
Hochebenen seiner Heimat in die Lüfte geschickt. Sibylla und ihre Jungs
brauchten jetzt zweifellos jemanden wie ihn, der etwas vom Drachensteigen
verstand! Er stieß sich von der rauhen Turmmauer ab und eilte beschwingten Schrittes
durch einen schmalen Durchlass in der Mauer zum

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