Die Loewin von Mogador
wichtiger aber war, den
ungeheuerlichen Vorwurf des Sklavenhandels zu entkräften. Tommy hatte sie vor
ein paar Tagen gefragt, was ein verfluchter Menschenhändler wäre. Seine
Spielkameraden auf der Straße hatten seinen Vater so genannt. Aus ihrer hilflos
gestotterten Antwort hatte er sich zusammengereimt, dass der Ausdruck keine
Auszeichnung darstellte, und seither kam er immer wieder mit zerrissenen Hosen
und blutigen Knien nach Hause.
„Ich verdresche jeden, der sagt, dass Papa
ein Menschenhändler ist!“, hatte er seiner entsetzten Mutter erklärt.
Sibylla stützte den Kopf in die Hände. „Oh,
wie habe ich alles satt! Aber irgendwie muss es weitergehen. Die Geschäfte der
Reederei führe ich schon allein.“
„Was meinst du?“, fragte André neugierig.
Als sie ihm erzählte, dass sie heute vor der
Stadt eine fünfzig Kamele umfassende Lieferung Leder aus Fès in Empfang
genommen, die Qualität geprüft, den Transport in ein Lager am Hafen veranlasst
und sogar mit dem Hafenmeister über die Formalitäten der Weitersendung nach
London gesprochen hatte, war er beeindruckt: „Ich wusste gar nicht, dass du
etwas von Leder verstehst.“
„Das tue ich auch nicht. Ich habe mich an das
Wenige erinnert, was Benjamin mir über gutes Leder erzählt hat, und schaffte es
irgendwie, den Eindruck zu erwecken, ich sei eine Expertin. Mein Mann hat seine
Geschäftsbücher sehr gewissenhaft geführt, so dass ich aus seinen
Aufzeichnungen sogar etwas über das Handeln lernen konnte.“
Sie lächelte ihn traurig an. Um ihre Augen
lagen tiefe Schatten. André stand vom Tisch auf, ging zu ihr und zog sie in
seine Arme. Sie legte den Kopf gegen seine Schulter, spürte den rauhen Stoff
seiner Jacke an ihrer Wange und dachte, wie gut es sich anfühlte, sich einige
Momente anlehnen zu dürfen, nicht stark sein zu müssen. Er strich über ihr
Haar.
„Wenn du möchtest, begleite ich dich im
Herbst nach Marrakesch. Ich kenne den Sultan schon lange und kann dir bei den
Verhandlungen helfen.“
Sie schlang ihre Arme um seine Taille und
drückte sich enger an ihn. „Ich stehe doch schon tief in deiner Schuld. Du bist
für mich nach Marrakesch geritten, und nun bietest du an, mich zu der Audienz
zu begleiten. Dabei willst du gewiss längst zu den Chiadma zurück und dich um
all die Dinge kümmern, die du schon viel zu lange aufgeschoben hast.“
Er küsste sanft ihre Stirn. „Dann ist es also
abgemacht. Im Herbst sehen wir uns wieder, und Sibylla, vergiss nie, dass du
eine starke Frau bist!“
Kapitel
fünfzehn - Mogador im April 1840
Es war ein ungewöhnlich windstiller Apriltag,
und die hoch am Himmel stehende Sonne schien warm auf die Festgesellschaft.
Mehr als zweihundert Menschen hatten sich am Strand von Mogador versammelt. Auf
Englisch, Französisch und Spanisch, Dänisch, Niederländisch, Italienisch und
Portugiesisch summte es durcheinander. Die Kinder, die hinter Sandhaufen, unter
Steinen und zwischen Grasbüscheln Eier und Süßigkeiten suchten, übertönten mit
ihrem Kreischen und Lachen das Klatschen der Wellen, die an den Strand rollten.
Mit Billigung des Kaids feierten die
christlichen Familien von Mogador wie jedes Jahr zusammen das Osterfest. In
ihrer schönsten Kleidung trafen die Menschen sich morgens am Meer, um in der
Bibel zu lesen, zu beten und zu singen, und die Besatzungen der europäischen
Schiffe, die über Ostern im Hafen lagen, gesellten sich dazu. In dieser Stadt
lebten so wenige Christen, dass sie alle zusammen feierten, egal, welcher
Nation sie angehörten oder ob sie Katholiken, Lutheraner, Calvinisten oder
Anglikaner waren.
Als André von seinem Pferd sprang, war die
Andacht bereits vorüber. Er warf die Zügel einem der Araberjungen zu, die sich
in gebührender Entfernung versammelt hatten und das Spektakel neugierig
beobachteten, und schritt langsam durch die Menge. Manchmal blieb er stehen,
begrüßte Bekannte und wechselte ein paar Worte. Doch sein Blick wanderte
suchend von Grüppchen zu Grüppchen.
„Im Herbst sehen wir uns wieder“, hatte er zu
Sibylla gesagt.
Jetzt war er schon acht Wochen später wieder
in Mogador. Vor ein paar Tagen hatte der französische Konsul der Stadt ihn
persönlich bei den Chiadma besucht. Er hatte beunruhigende Nachrichten aus dem
Norden des Landes und eine große Bitte an André im Gepäck. Im Grenzgebiet zwischen
Algerien und Marokko überfielen Berberstämme unter ihrem Führer Abd El Kader
das französische Militär. Sie kamen aus dem
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